© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/19 / 25. Januar 2019

Die neue deutsche Jagdleidenschaft
Begriffe als Trophäen
Konrad Adam

Wann immer die AfD öffentlich in Erscheinung tritt, auf Podien, mit Vorträgen oder im Rahmen von Parteitagen, bleibt sie nicht lang allein. Irgendwelche Demonstranten, die sich selbst gern Gegendemonstranten nennen, finden sich zuverlässig ein. Die Parolen wechseln, aber eine ist fast immer dabei: „Ganz Berlin, Köln, Freiburg, München, Hamburg usw. haßt die AfD.“

Ob die Kartellparteien, nachdem sie sich zum Kampf gegen „hate speech“ verbündet haben, nun auch die Aktivisten und die Journalisten, vielleicht sogar die Kirchenführer, die solchen Parolen ihren Beifall spenden, als Prüffälle der Aufmerksamkeit des Verfassungsschutzes empfehlen werden? Wahrscheinlich nicht. Denn der Kampf geht ja nicht gegen Haß, sondern gegen Rechts, und was rechts, falsch, strafbar und verboten ist, bestimmt der Lehrer.

Verboten ist zum Beispiel der Vergleich. Wer vergleicht, stellt Unterschiede fest, hatte ein bekannter Autor noch vor Jahren, als der Historikerstreit seinem Höhepunkt entgegentrieb, eher beiläufig bemerkt. Aber das gilt nicht mehr, soll jedenfalls in Deutschland nicht mehr gelten. Wer vergleicht, so das neue Dogma der antifaschistisch geläuterten Geschichtswissenschaft, will gleichstellen. Und Gleichstellung ist verboten.

Herbert Wehner kannte noch den Unterschied zwischen dem einen und dem anderen. Als Emigrant, der vor dem braunen Terror ins Heimatland der Werktätigen geflohen war, wußte er, wovon er sprach, als er die rechte Spielart der Gewaltherrschaft mit der linken verglich. Rückschauend meinte er, daß er unter den Nationalsozialisten 49 Prozent des Totalitarismus kennengelernt habe, die anderen 51 Prozent im Moskauer Emigrantenhotel „Lux“.

Hannah Arendt, Ernst Nolte, Hermann Lübbe, sie alle haben verglichen, jeder auf seine Art, jeder mit einem anderen Ergebnis. Ihnen gegenüber dürfte sich der Verdacht, ein Vergleich könne oder solle sogar auf Gleichsetzung, Relativierung oder ähnliches hinauslaufen, von selbst erledigen. Wer an ihm festhält, hätte immerhin die Frage zu beantworten, wie ein Vergleich des einen mit dem anderen Grauen etwas anderes hervorrufen kann als gesteigertes Grauen.

Der Verdacht auf apologetische Tendenzen, der seit dem Historikerstreit allgegenwärtig ist, hat eine vorurteilsfreie Beschäftigung mit der spezifisch deutschen Vergangenheit nahezu unmöglich gemacht. In seinen „Anmerkungen zu Hitler“, acht Jahre vor dem besagten Streit erschienen, unterscheidet Sebastian Haffner zwischen den Erfolgen, die Hitler der Kurzsichtigkeit seiner Gegner zu verdanken hatte, und seinen Leistungen, die er ihm und nur ihm zuschreibt. Das Kapitel beginnt mit dem Satz: „In den ersten sechs Jahren seiner zwölfjährigen Herrschaft überraschte Hitler Freund und Feind mit einer Reihe von Leistungen, die ihm vorher fast niemand zugetraut hatte.“

Tatsächlich sind die kritisch genannten Geistes-Wissenschaften auf dem Niveau von Talkshow-Runden angekommen. Sie nehmen das Wort für die Sache und mißbrauchen abstrakte Begriffe wie Populismus, um ihre Kontrahenten

fertigzumachen. 

Vierzig Jahre später würde das genügen, um Haffner, einen Emigranten, zum Häretiker zu stempeln und vor das Tribunal der Scharfrichter zu schleppen, die ihren Widerstand gegen das Dritte Reich unter den komfortablen Bedingungen der Republik nachholen. Widerstand muß Spaß machen, hat eine Frau bekannt, die auf ihre alten Tage ihr Herz für die Antifa entdeckt hatte und nun mit der Sprühdose durch die Gegend zieht, um Parolen, die sie für rechts hält, mit Parolen, die sie für links hält, zu übermalen. Dafür wird sie mit Lobreden in der Presse und Einladungen zu öffentlichen Gesprächsrunden überschüttet. Nach dem Spaß-Leben, dem anthropologischen Ideal des Spaß-Soziologen Ulrich Beck, nun also auch der Spaß-Widerstand.

Seine Erfinder haben etwas zustande gebracht, was es bisher nur unter den Bedingungen einer weltanschaulich oder religiös fundierten Zwangsherrschaft gegeben hat: eine Wissenschaft, die auf der Stelle tritt – und auch noch stolz darauf ist. Sie produziert „gültig“ genannte Erkenntnisse, die bei Strafe des Ausschlusses aus der Diskursgemeinschaft nicht angetastet werden dürfen. Also Dogmen und deren Gegenstück, die Häresie.

In dem erwähnten Buch zitiert Haffner des längeren aus einer Rede, in der sich Hitler kurz vor Beginn des Krieges rühmt, das Chaos überwunden, die Ordnung wiederhergestellt, das Volk geeint, die Wirtschaft belebt, Millionen von Arbeitslosen in Lohn und Brot gebracht, weite Gebiete, die Deutschland zu Unrecht abgenommen worden waren, zurückgewonnen und die Einheit des deutschen Lebensraums wiederhergestellt zu haben. Haffner kommentiert: „Ekelhafte Selbstbeweihräucherung, lachhafter Stil. Aber zum Teufel, es stimmte ja alles – oder fast alles.“

Haffner war immerhin Zeitgenosse. Das Dritte Reich hatte er in seinen Anfängen erlebt und später, nach seiner Flucht, von London aus auf seine Art bekämpft. Aber das zählt nicht in den Augen von Historikern, die den Gang der Dinge nicht erklären oder verstehen, sondern begutachten wollen. Was ihren Maßstäben nicht genügt, wird als Revisionismus verworfen, und Revision ist nicht nur überflüssig, sie ist böse. Als ob Revision, das ständige Überholtwerden der einen durch die andere Erkenntnis, nicht Schicksal und Zweck aller Wissenschaft wäre! Das meinte immerhin Max Weber; aber auch über den sind seine Enkel, die Geschichte als historische Sozialwissenschaft betreiben, weit hinaus.

Was als Wissenschaft durchgeht, wenn das Dritte Reich zum Thema wird, läßt das Wortgeplänkel um die tatsächlich so genannte Hitler-Glocke im Turm der Kirche in Herxheim ermessen, einem kleinen Ort an der pfälzischen Weinstraße. Sie war in den dreißiger Jahren gegossen und mit einem Hakenkreuz versehen worden; was kaum einen gestört haben dürfte, da Glocken dazu bestimmt sind, gehört und nicht gesehen zu werden. Da waren die Experten für dies und das freilich ganz anderer Meinung. Sie bestanden auf einer wissenschaftlich fundierten Bearbeitung des Falles und riefen nach einem Glockensachverständigen, um „der Bedeutung der akustischen und auditorischen Prägungen des Hörwissens von Menschen in ihren lokalen Umgebungen“ nachzuspüren. Der Fachmann soll die bösen Geister bannen, die vom Ton der Hitler-Glocke wachgerufen werden könnten: moderner Voodoo-Glaube im Gewand der Wissenschaft.

Tatsächlich sind die kritisch genannten Geistes-Wissenschaften auf dem Niveau von Talkshow-Runden angekommen. Sie nehmen das Wort für die Sache und mißbrauchen abstrakte Begriffe wie Populismus und Rassismus, Extremismus und Fundamentalismus, um ihre Kontrahenten bloßzustellen. Wer ihnen folgt, muß einen Mann wie Peter Graf Kielmansegg schon deshalb für verdächtig halten, weil er den Populismus, „wenn wir uns an den Wortsinn halten“, als Quintessenz der Demokratie bezeichnet. Den Staatsrechtslehrer Horst Dreier muß er schon deshalb als einen Feind der offenen Gesellschaft betrachten, weil er die Existenz und Dauerhaftigkeit innerer und äußerer Grenzen eine unentbehrliche Voraussetzung für die „Homogenität und Identität“ politischer Systeme nennt. Und so weiter.

Darf er sich noch auf Bernard Lewis berufen, der immer wieder daran erinnert hat, daß die Einheit von Religion und Obrigkeit im Bewußtsein der Muslime tief, ja unauslöschlich tief verankert sei? Schon der Gedanke einer Trennung von Kirche und Staat erscheine ihnen sinnlos, weil der Islam keine zwei Größen kennt, die sich auf diese Weise voneinander trennen ließen. Anders als im Christentum sei die Religion nicht ein Bereich unter vielen, sondern das Ganze, das Leben selbst, „ihre Zuständigkeit ist total“, schreibt Lewis. Was daraus an Gefahren für das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlichen Glaubens erwachsen könnte, scheint die christlich genannten Kirchen nicht zu kümmern, genausowenig wie den säkular genannten Staat. Er besteht auf Religionsfreiheit auch für solche Glaubensgemeinschaften, die ihn, den Staat, als Schutzmacht dieser Freiheit weder kennen noch anerkennen.

Wer die Erinnerung an unsere natürliche Mitgift und die daraus resultierenden genetisch bedingten Unterschiede als Biologismus anprangern will, kann sich auf alles mögliche berufen, nur nicht auf die Ergebnisse der Naturwissenschaft. 

Wie es zur Garantie der Religionsfreiheit gekommen ist, was sie verlangt und verbietet, fragt keiner mehr. Das Wort dient als ein Schlüsselreiz, um die Jagdinstinkte von Chefredakteuren, Sozialwissenschaftlern und Verfassungsschützern zu entfesseln. Sie machen es wie die Grünen in Nordrhein-Westfalen, die den Rassismus dadurch aus der Welt schaffen wollen, daß sie das Wort „Rasse“ aus der Landesverfassung streichen. Damit steht nun auch Tocqueville, der sich dazu bekannt hatte, an die Einheit des Menschengeschlechts, aber an die Verschiedenheit der Rassen zu glauben, als Hinterwäldler da. Hannah Arendt, die ihn für diese „herrlich präzisen Worte“ gelobt hat, natürlich auch. Wie ihr mittelalterliches Vorbild kennt auch die moderne Inquisition keine Ausnahmen und keine Gnade.

Dabei hat Tocqueville doch nur auf seine Weise ausgesprochen, was wir alle vor Augen haben und deshalb aus Erfahrung wissen: daß der Mensch ein Produkt aus beidem ist, aus genetischem Erbe und sozialer Umwelt, aus „nature and nurture“, wie es in der Fachsprache der modernen Biowissenschaften heißt. Wer das, die Erinnerung an unsere natürliche Mitgift und die daraus resultierenden genetisch bedingten Unterschiede als Biologismus anprangern will, kann sich auf alles mögliche berufen, nur nicht auf die Ergebnisse der Naturwissenschaft.

Je tiefer wir in die Geheimnisse der Menschwerdung eindringen, schreibt einer der führenden Evolutionsbiologen unserer Zeit, der Innsbrucker Zoologe Josef Reichholf, um so klarer werde die überragende Rolle, die unsere biologische Abkunft für das Menschsein spielt. An diese Rolle zu erinnern, ist verdienstvoll, und zwar auch dann, wenn das in so kruder Sprache und in so offenkundig provokanter Absicht geschieht wie durch Wolfgang Schäuble, der die Deutschen vor den Gefahren von Inzucht und Degeneration für den Fall glaubte warnen zu müssen, daß sie die Grenzen schließen und Zuwanderung erschweren wollen.

Solange Schäuble und seine Freunde die unkontrollierte Einwanderung pauschal als kulturelle Bereicherung ausgeben, sollten sie sich nicht wundern, wenn die genauso pauschale Antwort Verlust und Verarmung heißt; die eine Behauptung ist ebenso fahrlässig wie die andere. Der Widerstand gegen Angela Merkels Flüchtlingspolitik richtet sich ja nicht pauschal gegen irgendwelche Fremden, sondern gegen Fremde, die fremd sind und das auch bleiben wollen. Ziel der Proteste sind die vielen „gut integrierten“ Migranten, die plötzlich zum Messer greifen und zustechen.

Es widerspricht aller Lebenserfahrung, wenn der Bundespräsident behauptet, es gebe keine Nachbarn erster und zweiter Klasse, dürfe und solle sie jedenfalls nicht geben. Als Schloßherr von Bellevue mag er so reden; als gewöhnlicher Bürger, der mit seinen Nachbarn Wand an Wand wohnt und sich mit ihnen ins Benehmen setzen muß, kann man das aber nicht. Für den gibt es Nachbarn nicht nur erster und zweiter, sondern auch dritter Klasse. Die gab es schon immer, es wird sie auch in Zukunft geben, und niemand verdient Vorwürfe, wenn er sich gegen solche Nachbarn wehrt.






Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, war Feuilletonredakteur der FAZ und Chefkorrespondent der Welt. Adam gründete die Alternative für Deutschland mit und war bis Juli 2015 einer von drei Bundessprechern. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Klimawandel („Wider die halbe Wahrheit“, JF 27/18).

Foto: Jagdtrophäen: Begriffe dienen nur mehr als Schlüsselreize, um die Jagdinstinkte von Chefredakteuren, Sozialwissenschaftlern und Verfassungsschützern zu entfesseln