© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/19 / 25. Januar 2019

Ein Renegat für die Revolution
Der vergessene dritte Mitbegründer der KPD: Zum hundertsten Todestag Franz Mehrings
Wolfgang Müller

Von den Paten, die zum Jahreswechsel 1918/19 maßgeblich daran Anteil hatten, die Kommunistische Partei Deutschlands aus der Taufe zu heben, lebte schon vier Wochen nach dem Gründungsakt niemand mehr. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht verschlang am 15. Januar 1919 der Terror des von ihnen in der Reichshauptstadt vom Zaun gebrochenen Bürgerkriegs (JF 3/19), während dreizehn Tage später „der Schmerz über deren grausames Ende ihren Mitstreiter Franz Mehring dahinraffte“. Mit dieser prosaischen Darstellung wurde der 73jährige mit seiner letalen Lungenentzündung zum „indirekten Opfer des konterrevolutionären Terrors“. 

Liberale als Sachwalter „bourgeoiser Geldwirtschaft“

Dem 1846 in der hinterpommerschen Kleinstadt Schlawe geborenen Journalisten und Historiker war es nicht an der Wiege gesungen, nach dem Tod von Friedrich Engels (1895) zum bedeutendsten sozialistischen Publizisten im Kaiserreich, zum führenden Kopf der äußersten Linken aufzusteigen und 1926 in Berlin-Friedrichsfelde neben „Karl und Rosa“ ein Ehrengrab zu bekommen. Entstammte Mehring doch einer pommerschen Familie von Beamten und Geistlichen, die nicht nur mit dem heimischen Uradel verwandt war – eine seiner Großmütter war eine geborene von Zitzewitz. Sie brachte auch seit dem frühen 18. Jahrhundert in fünf Generationen nicht weniger als neun Pastoren hervor. Kein Wunder daher, daß der Sohn eines ehemaligen Offiziers, der als Kreissteuereinnehmer und Stadtrat zu den Honoratioren Schlawes gehörte,  „preußisch-protestantisch“ erzogen für „Thron und Altar“, als Gymnasiast davon träumte, Theologie zu studieren und die Examina vor dem Stettiner Konsistorium „mit allem Glanz zu absolvieren“.

Es sollte zwar anders kommen. Aber dieses Herkunftsmilieu prägte seine ganze intellektuelle Existenz. Denn die Fixierung auf Preußen nahm bei ihm derart obsessive Züge an, daß aus dem atheistischen Sozialisten einer der intimsten Kenner der Geschichte dieses Staates und zugleich dessen schärfster Kritiker wurde. Wobei ihm die Abnabelung nicht vollständig gelang. Es blieb ein Rest von tiefer Zuneigung zu den „ostelbischen Junkern“, weil es für Mehring noch hassenswertere Zeitgenossen gab: Liberale als politische Sachwalter „bourgeoiser Geldherrschaft“. 

In seinem berühmtesten, von Engels als Meisterwerk materialistischer Ideologiekritik begrüßten Buch, der „Lessing-Legende“ (1893), die treffender Friedrich- oder Hohenzollernlegende hätte heißen sollen, kommt gerade der Adel Hinterpommerns passabel weg: es sei nicht „die übelste Rasse“ gewesen. Überhaupt könne man den preußischen Junkern, von denen im Siebenjährigen Krieg 4.000 auf dem Schlachtfeld blieben und sich somit für ihr „Klasseninteresse“ geopfert hatten, den Respekt nicht versagen. Anders als dem notorisch unterwürfigen und feigen deutschen Bürgertum, das für seine Klasseninteressen nicht einmal annähernd solchen Opfersinn gezeigt habe. 

Als der Schriftsteller Mehring solche souveränen Urteile von weltanschaulich gefestigter Stellung aus fällen konnte, lag eine windungsreiche politische Biographie hinter ihm. Nach dem Studium der Klassischen Philologie fand Mehring seine erste politische Heimat nämlich bei den später so verachteten Liberalen, wo er munter zwischen Rechts- und Linksliberalismus wechselte. Als Student schon fand er Anschluß bei der Nachhut von 1848, den linksliberalen Radikaldemokraten um den Königsberger Arzt Johann Jacoby. Mitte der 1870er verdiente er sein Geld als Berliner Korrespondent der Frankfurter Zeitung, dem nationalliberalen Sprachrohr der süddeutschen „Handels- und Börsen-Bourgeoisie“. Während der 1870er und 1880er Jahre machte sich der konsequente „bürgerliche Demokrat“ zudem als militanter Gegner der Arbeiterbewegung einen Namen und verfaßte eine, Sympathien mit Bismarcks Sozialistengesetz verratende Streitschrift gegen die polizeilich verfolgte Sozialdemokratie, die diesem als „Experten im antisocialistischen Kampf“ geltenden Polemiker viele seiner späteren Genossen nie vergaßen. 

Sozialreformer im Gegensatz zu den Revolutionären

So weit wie er in seinen „liberalen“ Jahrzehnten von der SPD entfernt war, so wenig der nur mit den Schriften des „Staatssozialisten“ Ferdinand Lassalle vertraute Mehring die Werke von Marx und Engels kannte, so sehr er sich im Einklang mit dem kapitalistischen Status quo wähnte, sympathisierte er doch als moralischer Rigorist mit dem Kampf der Arbeiterklasse für eine gerechtere Gesellschaftsordnung. Nur setzte er in den 1880ern seine Hoffnung noch auf Bismarcks „Sozialpolitik von oben“. 1891, nachdem ihre Finanziers den unbequemen Chefredakteur der Berliner Volks-Zeitung ausgebootet hatten, platzten Mehrings Illusionen über die Reformierbarkeit des kapitalistischen Systems und führten zum Frontwechsel hin zur Sozialdemokratie, als Leitartikler am Theorieorgan Neue Zeit und von 1902 bis 1907 als Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung. 

Wie bei Renegaten nicht unüblich, bezog der von der Parteiführung bald als „genialer Pamphletist“ hochgeschätzte bürgerliche Neuzugang eine fundamental marxistische Position. Was ab 1900 immer häufiger interne Konflikte provozierte, denn die Partei- und Gewerkschaftsoligarchie begann damit, sich die „Revision“ zur politischen Maxime zu machen, der ihre Theoretiker Eduard Bernstein und Karl Kautsky den Marxismus unterzogen hatten. Eine 1899 veröffentlichte Krisenanalyse Rosa Luxemburgs, mit der Mehring bereits in dieser Zeit eine Kampfgemeinschaft gegen die „Bonzen“ im Parteivorstand bildete, brachte den sich auftuenden Gegensatz auf die knappe Formel „Sozialreform oder Revolution“. 

Wollten die saturierten Parteifunktionäre und die „Facharbeiteraristokratie“ um Genossen wie August Winnig allenfalls noch im Schlafwagen der Reichstagswahlen zur Macht gelangen, um als Regierung die große Gesellschaftsreform zugunsten der Arbeiterklasse ins Werk zu setzen, beharrte ihre linke Opposition um Luxemburg und Mehring auf dem Dogma von Marx und Engels, demzufolge es auf dem Boden der kapitalistischen Klassengesellschaft, ihrer Eigentums- und Produktionsverhältnisse, für Arbeiter und Angestellte keine Befreiung aus der „Lohnsklaverei“, von Entfremdung und Verdinglichung geben könne. Folglich müsse die SPD nicht auf Reform sondern auf Revolution setzen. 

Das wäre ein durchaus realpolitischer Kurs gewesen angesichts des sich vor 1914 im Deutschen Reich verschärfenden, von Massenstreiks in den Industriezentren begleiteten Klassenkampfes. Die Gewalt, die Mehring und Luxemburg dabei für erforderlich hielten, bedeutete zu diesem Zeitpunkt nicht Revolution und Blutvergießen, sondern „konzentrierter Einsatz proletarischer Macht“ in friedlichen Massenstreiks. Spätestens nach den Wahlen 1912, nach denen die SPD die stärkste Reichstagsfraktion wurde, schien diese Strategie jedoch widerlegt. Statt der revolutionären Diktatur des Proletariats sollte allein die Parlamentsmehrheit das Tor zum sozialistischen Zukunftsstaat aufstoßen. Für den Clausewitz-Kenner Mehring hatte die Partei damit den fatalen „Kulminationspunkt des Sieges“ erreicht: „Die Flugkraft ist dann zu Ende, und wenn der Gegner nicht niedergeworfen ist, so wird es höchstwahrscheinlich nicht mehr geschehen.“ 

Wie recht der Parteihistoriker Mehring hatte, dessen unverdient vergessene Schriften heutigen Konkursverwaltern der SPD vorzüglich als Folie zum Verständnis ihrer Misere dienen könnten, bewies dann der Spaltungsprozeß der Arbeiterbewegung, der mit der Bewilligung der Kriegskredite und dem „Burgfrieden“ vom 4. August 1914 begann und der sich mit der Gründung von USPD (1917) und KPD fortsetzte.