© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/19 / 25. Januar 2019

In der Bundesrepublik gibt es kein strategisches Bewußtsein
Ein Sammelband der Wiener Strategiekonferenz 2017 offenbart, inwieweit Berlin von außenpolitischer Konzeptlosigkeit gelenkt ist
Peter Seidel

Niemals seit der Wiedervereinigung war die deutsche Außenpolitik in einem schlechteren Zustand als heute. Und das bedeutet angesichts so famoser Staatsmänner wie Kinkel, Westerwelle und Gabriel, die zuvor das Amt des Außenministers bekleideten, so einiges. Höhepunkt von Inkompetenz und Blauäugigkeit war jetzt der Versuch von Finanzminister Olaf Scholz, quasi regierungsamtlich Nebenaußenpolitik zu betreiben und dabei krachend zu scheitern. Dabei war es ihm zugleich gelungen, in Paris merkliche Irritationen, Verärgerung und teilweise Hohn hervorzurufen, sein Vorstoß wurde dort als „ausgesprochen unpassend“ empfunden.  

Was war passiert? In einer Rede vor Studenten der Berliner Humboldt-Universität hatte Olaf Scholz Frankreich aufgefordert, seinen Sitz im Uno-Sicherheitsrat an die Europäische Union abzutreten. Die Antwort kam prompt: Es sei „politisch unvorstellbar“, daß die Atommacht Frankreich auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat verzichte. Die Bundeskanzlerin, die zuvor im Juni ähnliche Vorstellungen geäußert hatte, hielt sich mit Kommentaren zurück: Eine politische Ohrfeige, die im bundesdeutschen Blätterwald weitgehend unterging. 

Die Notwendigkeit einer strategischen Erneuerung

Da kommt ein Buch zur rechten Zeit, das sich eben mit dem Verhältnis von Politik und Strategie beschäftigt: Bei „Strategie neu denken“ handelt es sich um einen Sammelband über die neue Wiener Strategiekonferenz, deren Ziel es laut Vorwort des Herausgebers Wolfgang Peischel ist, „eine vom deutschen Sprachraum ausgehende, internationale Strategieentwicklungs- und Diskussionsplattform zu schaffen“. In 31 Aufsätzen beschäftigen sich nationale und internationale Experten mit der Entwicklung und Umsetzung von Strategie und der Notwendigkeit des Ineinandergreifens ihrer Elemente bis zum aktuellsten Thema, den inzwischen auch öffentlich bekannten Überlegungen zur „Strategischen Kultur“, wie sie beispielsweise vom französischen Staatspräsidenten oder der EU-Kommission aufgegriffen wurden, weil sie hier Handlungsbedarf erkannten. 

Die Wiener Strategiekonferenz fand 2017 das zweite Mal statt und legt jetzt ihren neuen Bericht vor. War die erste Konferenz an Politikfeldern, Länderprofilen und Regionalkonflikten orientiert, so rückte die Folgekonferenz vor allem ein Thema in den Mittelpunkt: das der „Strategischen Kultur“, also der Art und Weise, wie Staaten heute Außen- und Sicherheitspolitik betreiben und was sie dabei beachten sollten. Grundlegend hierzu vor allem die abschließende Zusammenfassung des Herausgebers, die zum Besten gehört, was derzeit zum Thema strategische Kultur auf dem Markt ist, beachtenswert auch der Beitrag von Hew Strachan über die Zukunft der strategischen Studien.

Auch hier allerdings enttäuschend: die deutschen Beiträge, selbst von renommierten Autoren; selbst hier der Eindruck von Versatzstücken wie aus Regierungserklärungen. Auch hier wieder die Begegnung mit dem deutschen Strategiedefizit, über das die Öffentlichkeit in den letzten Jahren immerhin mit zahlreichen gut gelungenen Schriften wie der von Leon Mangasarian und Jan Techau informiert wurde, mit denen über die Notwendigkeit einer strategischen Erneuerung deutscher Außenpolitik aufmerksam gemacht wurde. Ohne Erfolg offenbar in der offiziellen Politik.   

Scholz’ Tritt ins Fettnäpfen ist kein Einzelfall. Selbst Wien und Den Haag weisen heute eine stringentere Außenpolitik auf als Berlin. Den Haag als Stimmführer bei der Ablehnung eines Eurobudgets und Wien in der europäischen Grenzsicherungspolitik. Die jahrzehntelange deutsche Wackelpolitik hinsichtlich eines ständigen Sitzes im Uno-Sicherheitsrat zeigt deutlich: In Berlin hat Außenpolitik keinen Stellenwert, wie auch die Besetzung des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag zeigt: ein Seniorenclub mit weitgehend unbekannten und offenbar auch ideenlosen Mitgliedern. Änderung also wohl nicht in Sicht. Wer sich damit nicht zufriedengeben will, sollte sich mit dem neuen Sammelband der Wiener Strategiekonferenz ein eigenes Bild machen.

Wolfgang Peischel (Hrsg.): Wiener Strategie-Konferenz 2017. Strategie neu denken. Miles Verlag, Berlin 2018, gebunden, 472 Seiten, 34,80 Euro