© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/19 / 25. Januar 2019

Nur grob geschätzte Grundlagen
Wissenschaftler, Umweltschützer und Politiker streiten über die Höhe von Stickoxid-Grenzwerten
Karsten Mark

Es war eine simple Frage, mit der Alice Weidel schlagartig die gesamte Gesprächsrunde ins Schwimmen brachte: „Warum“, fragte die AfD-Fraktionschefin in der ARD-Talkshow von Anne Will den SPD-Spitzenpolitiker Thomas Oppermann, „sind die Grenzwerte von Stickoxiden in Büro-Innenräumen höher als beispielsweise draußen? Das konnte mir bisher niemand erklären.“ Der Bundestagsvizepräsident und frühere niedersächsische Wissenschaftsminister konnte es auch nicht. Er gab zu, die Grenzwerte gar nicht zu kennen und verhedderte sich alsbald in einer Begriffsverwirrung aus „Stickoxiden“, „NOX“ und „Feinstaub“.

„Aus medizinischer Sicht schlicht Unsinn“

Weidel hatte den überwiegenden Teil von Politik und Öffentlichkeit an einem Punkt völliger Ahnungslosigkeit erwischt. Denn in der Tat tolerieren die deutschen Arbeitsschutzgesetze beim Reizgas Stickstoffdioxid (NO2), welches in hohen Konzentrationen sehr giftig ist, Mittelwerte von bis zu 950 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. An den städtischen Straßen sind hingegen bereits 40 Mikrogramm ausreichend, um vor deutschen Gerichten städtische Diesel-Fahrverbote zu erwirken. In Hamburg und Stuttgart gelten diese schon, im Laufe dieses Jahres kommen Berlin, Bonn, Darmstadt, Essen, Gelsenkirchen und Köln hinzu. In Frankfurt und Mainz ist es noch offen.

Das Umweltbundesamt (UBA), das letztlich für den niedrigeren Grenzwert im Straßenverkehr verantwortlich ist, erklärte den Unterschied so: Während man am Arbeitsplatz von gesunden, arbeitsfähigen Menschen ausgehen könne, müsse der Grenzwert für die Straße auch Schwächere wie Asthmatiker, Alte und kleine Kinder berücksichtigen. Der Verkehrsbereich trage zudem zu rund 60 Prozent zur NO2-Belastung bei. Diesel-Pkw seien daran zu 72,5 Prozent beteiligt. Busse machten „nur vier Prozent der Emissionen des städtischen Verkehrs aus. Auch Lkw- und Lieferverkehr sind mit rund 19 Prozent deutlich weniger an der Luftbelastung beteiligt als die Diesel-Pkw“, so das UBA. Dieses Argumentationsmuster übernahmen Medien und Politik. Und es erscheint auch plausibel. Doch läßt sich so tatsächlich ein Unterschied um das beinahe 24fache erklären?

Die Wissenschaftler, die es genauer wissen, hielten sich lange in der Öffentlichkeit zurück. Erst in jüngster Zeit häufen sich die Stimmen, die den geltenden Grenzwert im Straßenverkehr offen als unseriös kritisieren. „Er ist aus medizinischer Sicht schlicht Unsinn“, erklärte der Arzt und Biochemiker Alexander Kekulé in der Welt. „Es gibt keinerlei wissenschaftliche Grundlage dafür, 40 Mikrogramm NO2 zur Marke zu erklären, ab der den betroffenen Menschen gesundheitliche Schäden drohen.“ In einem seiner regelmäßigen Beiträge für den Tagesspiegel zeichnet der Direktor des Instituts für für Medizinische Mikrobiologie in Halle/Saale die Geschichte hinter dem NO2-Grenzwert nach. Demzufolge liegt der „Reizwert“ für einen gesunden Menschen bei über über 1.000 Mikrogramm pro Kubikmeter – insofern erscheint der Arbeitsplatzgrenzwert gut begründbar. Für Asthmatiker liege die problematische Konzentration allerdings bei nur 180 Mikrogramm. Unterhalb von 150 Mikrogramm ließen sich hingegen kaum sichere Aussagen treffen.

6.000 Todesfälle und 50.000 verlorene Lebensjahre?

Diese Erkenntnis ist nicht neu. Die US-Umweltbehörde EPA hat bereits in den siebziger Jahren einen Grenzwert von 103 Mikrogramm vorgeschrieben. Nach einer Überprüfung 1995 blieb es dabei. Nur Kalifornien hat den Wert auf 57 Mikrogramm gesenkt. Gälte der auch in Deutschland, gäbe es kaum Diskussionen um Dieselfahrverbote. Woher kommen aber die für deutsche Dieselfahrer so fatalen 40 Mikrogramm? Das gehe auf eine Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zurück, sagte Angela Merkel bei einer Pressekonferenz 2018 – und die sei ja „schließlich nicht irgendeine Organisation“. Beteiligt an der Empfehlung waren Wissenschaftler wie die Münchner Biologieprofessorin Annette Peters, Direktorin des Helmholtz-Instituts für Epidemiologie (EPI).

„Die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation sind Werte“, sagte Peters dem NDR, „bei denen man damals dachte, daß man mit diesen Grenzwerten die Bevölkerung wirkungsvoll schützen kann. Und daß die Luftqualität, basierend auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen von 2005, dann optimal wären.“ Was die EPI-Chefin nicht thematisiert, ist die dürftige Datenbasis dieser „Erkenntnisse“, die die EPA dazu veranlaßte, selber keine Grenzwertänderungen vorzunehmen. In Europa hingegen war eine Grenzwertverschärfung laut dem Biochemiker Kekulé politisch erwünscht, so daß man auch auf Studien mit wenig Aussagekraft zurückgriff. Eine davon beschäftigte sich mit dem Einfluß von Gasherden auf die Gesundheit von Kindern in den USA. Denn NO2 entsteht auch dort. Aber Gasherde sind unterschiedlich, Wohnungen und deren Belüftung sowieso, und damit ließ sich den Studien wenig Aussagekräftiges entnehmen. Am Ende reichte es nur für eine Schätzung. Einige Wissenschaftler hinderte dies aber nicht daran, auf grob geschätzter Grundlage exakte Berechnungen anzustellen: „Unsere Studie, die wir im Auftrag des Umweltbundesamtes durchgeführt haben, hat ausgerechnet, daß es etwa 6.000 Todesfälle in Gesamtdeutschland sind und ungefähr 50.000 Lebensjahre, die in der Gesamtbevölkerung verlorengehen“, so Annette Peters gegenüber dem NDR.

Auch Krankheitsdaten, aus denen hervorgeht, daß Menschen auf dem Lande im Durchschnitt etwas länger leben als in der Stadt, wurden ausgewertet. Aber wer sich ein bißchen mehr bewegt, weniger Alkohol trinkt und etwas weniger raucht, würde wohl den gleichen Effekt erleben. „Also der Schluß, das jetzt dem Stickoxid oder dem Feinstaub zuzuordnen, ist wissenschaftlich gar nicht zulässig. Man macht aus einer zufälligen Korrelation eine Kausalität, für die es keine Begründung gibt. Im Gegenteil: Man kann das sogar sehr gut widerlegen“, schrieb der ehemalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie, Dieter Köhler, im Medizinreport des Deutschen Ärzteblatts (38/18). 

Informationen zu Stickoxid-Grenzwerten: 

 umweltbundesamt.de/

 www.vda.de

 adac.de