© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/19 / 01. Februar 2019

Verdachtssplitter aus dubiosen Quellen
Gutachten: Ein „Leak“ offanbart, wie der Verfassungsschutz die AfD sieht / Dabei ist für die Autoren auch allerlei Belangloses erwähnenswert
Jörg Kürschner / Björn Harms / Christian Vollradt

Als Dokument der Zeitgeschichte gehöre das Gutachten des Verfassungsschutzes über die AfD „ans Licht der Öffentlichkeit und nicht in einen Panzerschrank“, schrieben die Verantwortlichen des Blogs „netzpolitik.org“. Anfang dieser Woche hatten sie  das Dossier des Kölner Bundesamts – klassifiziert als „Verschlußsache – Nur für den Dienstgebrauch“ und bisher außerhalb der zuständigen Stellen lediglich einigen Medien durchgestochen – vollständig auf ihrer Internetseite veröffenlicht, „geleakt“. Einsehbar für jeden, den es interessiert, darunter logischerweise vor allem viele Mitglieder der AfD.  

Deren Spitze geht indes weiter juristisch gegen den Verfassungsschutz vor (JF 5/19). So hat der Bundesvorstand „gegen die rechtsgrundlose Öffentlichmachung des Prüffalls eine Abmahnung mitsamt Unterlassungserklärung an das Bundesamt für Verfassungsschutz übermitteln lassen“ und wird, sofern dies keinen Erfolg haben sollte, „eine Feststellungsklage vor dem Verwaltungsgericht als Eilantrag“ einreichen. Außer auf die Strafanzeige wegen Verletzung des Dienstgeheimnisses gegen den Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, bestehen die beiden AfD-Bundessprecher Jörg Meuthen und Alexander Gauland weiterhin auch auf einem Antrag auf Akteneinsicht in das über die AfD angefertigte Gutachten des Bundesamtes für Verfassungsschutz.

Denn, so die Argumentation, offiziell kennt die Partei noch gar nicht, was ihr da vorgeworfen wird. Bernd Baumann, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der AfD-Fraktion im Bundestag und Mitglied im Innenausschuß des Parlaments, sagte am Dienstag vor Journalisten, man habe sich regelrecht „überfahren“ gefühlt, als der oberste Verfassungsschützer dem Gremium seine Erkenntnisse vortrug, ohne den Abgeordneten Einblick in das Originaldokument zu gewähren. Lediglich eine Zusammenfassung der insgesamt 443 Seiten langen Schrift wurde den Mitgliedern des Bundestagsinnenausschusses in Bälde in Aussicht gestellt; auf sie kommt es nun nicht mehr an.  

„Diffamierung des           Regierungshandelns“

Laut eigenen Angaben haben die Landesämter und das Bundesamt nicht nur über 182 Reden von 50 Parteivertretern nachgelesen, sondern auch die Facebook-Profile von rund 80 AfD-Funktionären „systematisch gesichtet und ausgewertet“. Auch die Internetseiten und Facebook-Profile aller AfD- und aller JA-Landesverbände, des „Flügels“, der „Patriotischen Plattform“ sowie zahlreicher nachgeordneter Parteigliederungen wie beispielsweise Kreis- und Ortsverbänden seien „eingehend analysiert und auf das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung überprüft“ worden.

Parteien oder ihre Teilorganisationen verfolgten verfassungsfeindliche Bestrebungen, wenn sie darauf gerichtet seien, die im Bundesverfassungsschutzgesetz genannten Verfassungsgrundsätze „durch politisch bestimmte, ziel- und zweckgerichtete Verhaltensweisen zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen“, heißt es eingangs des Gutachtens. Diese Grundsätze seien in erster Linie die Garantie der Menschenwürde, das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip. Eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz komme allerdings erst in Betracht, „wenn der Personenzusammenschluß bzw. die für ihn verantwortlich Handelnden selbst auf die Beeinträchtigung des Schutzgutes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung hinarbeiten“„

Unvereinbar mit der Garantie der Menschenwürde seien etwa Vorstellungen, „die den grundsätzlichen Achtungsanspruch des Menschen von etwas anderem als seiner bloßen Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung abhängig machen wollen“. Wer eine Gesellschaft anstrebe, „in der bestimmten Gruppen von Menschen ein von vorneherein abgewerteter rechtlicher Status zugeschrieben wird und diese einer demütigenden Ungleichbehandlung ausgesetzt werden, wendet sich gegen die Garantie der Menschenwürde“. Und genau dies sei der Fall, „wenn in völkisch-nationalistischer Weise allein das Überleben des Volkes als Organismus zum Ziel des politischen Handelns gemacht wird, hinter dem die Interessen des Einzelnen vollständig zurückzutreten haben“. Dies gelte insbesondere, „wenn ein solches Konzept mit einem biologisch-rassistischen oder ethnisch-kulturellen Volksbegriff verbunden wird, der bestimmte Menschen qua Geburt und ihrer Natur nach aus dem Volk ausschließt“, so die Verfassungsschützer.  

Solche Äußerungen oder programmatischen Konzepte macht das Gutachten vor allem im „Flügel“ sowie in der Jungen Alternative (JA) aus, die daher auch mit der weitergehenden Einstufung als „Verdachtsfall“ versehen werden (JF 5/19). Vor allem der unter Protagonisten des „Flügels“ häufig verwendete und „wegen seines nationalsozialistischen Hintergrunds historisch belastete Begriff ‘Umvolkung’“ stößt den Gutachtern in diesem Zusammenhang auf. „Die Gleichsetzung der aktuellen Migrationspolitik – ungeachtet aller möglichen oder diskutablen Kritikpunkte – mit einem ‘Genozid’ an den ethnischen Deutschen schließlich stellt die größtmögliche Diffamierung des gegenwärtigen Regierungshandelns und gleichzeitig eine ungeheure Banalisierung tatsächlicher Völkermorde dar.“ Gehört jedoch in diesen Kontext wirklich eine Aussage der AfD-Bundestagsabgeordneten Beatrix von Storch, die das Gutachten ebenfalls zitiert? „Die Integration ist gescheitert. Krachend. Bei uns. Erste Konsequenz: Stopp dem Doppelpaß! Abstammungsprinzip wieder einführen. Hören wir auf, unsere Staatsbürgerschaft zu verschenken an zu viele, die etwas ganz anderes wollen als wir.“ 

Für die Gesamtpartei stellen die Verfassungsschützer fest: „Im Ergebnis muß festgehalten werden, daß eine Gesamtschau aller Programm- und Grundsatztexte zwar noch keine hinreichend verdichteten tatsächlichen Anhaltspunkte, aber durchaus verdächtige Informationssplitter enthalten, die auf eine Ausrichtung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung – hier insbesondere im Hinblick auf das Kernelement der Menschenwürde – hindeuten könnten“. Wie dieses „könnten“ kennzeichnen das gesamte Papier zahlreiche solcher vagen, unbestimmten Formulierungen: „erste tatsächliche Anhaltspunkte“, „muß nicht erwiesen sein“, „Verdachtssplitter“, „verdächtige Informationssplitter“, „diesbezügliche Zweifel“, „dies legt die Vermutung nahe“ oder „in Ansätzen“; dies alles vor dem Hintergrund, daß mit ihnen der für die Partei schwerwiegende und folgenreiche „Prüffall“ begründet wird.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie die Nachrichtendienstler ihre Tätigkeit selbst wahrnehmen: Die Beobachtung durch den Verfassungsschutz sei „kein gegen den Bestand der politischen Partei gerichtetes Einschreiten, auch keine Sanktion ihrer Funktionäre, Mitglieder und Unterstützer“. Sie diene „vielmehr der Aufklärung des gegen die Partei gerichteten Verdachts; die grundsätzliche Zulässigkeit einer solchen Aufklärung wird vom Grundgesetz vorausgesetzt“. In der politischen Wirklichkeit ist eine Beobachtung durch das Bundesamt – ob zu Recht oder Unrecht, wie der Fall der Republikaner seinerzeit offenbarte – sehr wohl eine Sanktion, eine schwerwiegende zumal. Nicht zuletzt die Analyse des Freiburger Staatsrechtlers Dietrich Murswiek vor allem zur Stellung von Beamten in einer vom Verfassungsschutz beobachteten Partei belegt dies. 

Über zwanzigmal greifen die Gutachter in ihrem Bericht direkt auf Quellen der Antifa-Szene zurück. Bezüglich einer Aussage des AfD-Bundestagsabgeordneten Gottfried Curio verweisen die Verfassungsschützer etwa auf die Website www.antifa-berlin.info. Folgt man dem Link, ist zwar der Satz von Curio zu finden. Doch wann, wo und in welchem Zusammenhang die Aussage gefallen sein soll, ist nicht überprüfbar. An anderer Stelle heißt es, der (in den eigenen Reihen höchst umstrittene) hessische AfD-Politiker Carsten Härle – gegen den der Landesvorstand ein Parteiausschlußverfahren initiiert hat – habe in einem Facebook-Post die Existenz von „Duschkabinen mit Gas“ in nationalsozialistischen Vernichtungslagern bestritten und entsprechende Berichte als „von Anfang an pure erfundene Greuelpropaganda“ bezeichnet. Als Quelle dafür wird jedoch lediglich ein Artikel des Regensburger Antifa-Blogs www.dissent.blogsport.eu aufgeführt. In diesem sind die entsprechenden Zitate Härles jedoch nicht zu finden. Von einer kritischen Quellenanalyse des Verfassungsschutzes kann also kaum die Rede sein.

Kein Verstoß gegen          das Rechtsstaatsprinzip 

Auch einige sachliche Fehler finden sich in dem Dossier. So „soll“ etwa der hessische Bundestagsabgeordnete Jan Nolte Mitglied einer Marbuger Studentenverbindung sein, obwohl er vor seiner Wahl ins Parlament Oberbootsmann bei der Marine und nie Student war – wie dem legendären rot-weiß gestreiften „Kürschners Volkshandbuch Deutscher Bundestag, 19. Wahlperiode“ unschwer zu entnehmen ist. Und aus dem Vorsitzenden der Brandenburger Jungen Alternative wurde an anderer Stelle flugs der Chef des AfD-Landesverbands.  

Zum Teil stützt sich die Analyse auch auf Recherchen von Journalisten und Wissenschaftlern, die fast ausschließlich aus dem linken politischen Spektrum stammen. So folgen die Beamten etwa der Argumentation des Soziologen Andreas Kemper, der Belege dafür sammelte, daß Björn Höcke unmittelbar vor seinem Eintritt in die AfD unter dem Pseudonym „Landolf Ladig“ in NPD-Zeitschriften publiziert habe. Eine „Identität zwischen ‘Ladig’ und Höcke“ sei dank Kempers Beweisführung, die 2016 von der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlicht wurde, „mit Gewißheit anzunehmen“, schreiben die Verfassungsschützer anerkennend. Weiterhin zitieren sie Studien von Politikwissenschaftlern wie Frank Decker, langjähriges SPD-Mitglied und stetiger Warner vor einer Radikalisierung der AfD, oder Soziologen wie Alexander Häusler, der in verschiedenen Medien als Rechtsextremismusexperte auftritt.

In einigen Fällen fördern die Verfassungsschützer auch Entlastendes zutage. So stelle die Partei etwa programmatisch nicht das Rechtsstaatsprinzips in Frage. Daher, so der Schluß der Gutachter, „verstößt das Grundsatzprogramm der AfD nicht gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“. Auch seien trotz „eines grundsätzlichen Mißtrauens gegenüber dem Islam“ in den programmatischen Aussagen der Partei keine Widerspüche zur grundgesetzlich garantierten Religionsfreiheit „zweifelsfrei belegbar“.