© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/19 / 01. Februar 2019

Grüße aus Wien
Dann mal früher raus
Michael Link

Morgenstund’ hat Gold im Mund. Diesmal bestimmt. Die klare Winternacht hat es möglich gemacht, die totale Mondfinsternis und das hübsche Pärchen Venus und Jupiter über unserer Stadt zu bewundern. Das läßt mich für einige Minuten beinahe die Eiseskälte von meiner Beobachtungsstelle hinter dem Haus vergessen. Doch nur beinahe. Also lasse ich Blutmond und Morgenstern bald hinter mir und schreite heute deutlich früher als sonst zur Arbeit.

Ich gebe es zu: Selten bin ich bereits um 6.30 Uhr auf Achse, besonders im Winter, lieber schlafe ich um diese Zeit noch eine Runde. Und irgendwie habe ich das Gefühl, auf meinem ohnehin kurzen Weg begleitet zu werden – von so etwas wie einem guten Gewissen. Immerhin sorgt dieser Tage ein an die Stadt Wien gerichteter Sager unseres Bundeskanzlers Sebastian Kurz von der Volkspartei (ÖVP) für Aufregung: „Ich glaube nicht, daß es eine gute Entwicklung ist, wenn immer weniger Menschen in der Früh aufstehen, um zu arbeiten, und in immer mehr Familien nur mehr die Kinder in der Früh aufstehen, um zur Schule zu gehen.“ 

Kurz  habe einem beträchtlichen Teil der Wiener Bevölkerung unterstellt, daß sie faul wären und in der Früh nicht aufstehen würden, zeigte sich Wiens SPÖ-Parteisekretärin Barbara Novak empört.  

Sind die Wiener tendentiell also Langschläfer oder sogar fauler als die übrigen Österreicher?

Doch ein Blick auf die Statistik erklärt, daß Kurz’ kritischer Blick auf die Bundeshauptstadt nicht nur an der Umsetzungsweigerung Wiens unter dem neuen Bürgermeister Michael Ludwig liegen könnte: So leben 57 Prozent der Mindestsicherungsbezieher in Wien, zudem ist die Anzahl der Bezieher zwischen 2012 und 2017 um 39 Prozent angestiegen. Darüber hinaus ist die Zahl der Arbeitslosen verhältnismäßig hoch – mit rund 13 Prozent sind es aktuell doppelt so viele wie bundesweit.

Sind die Wiener tendenziell also Langschläfer oder sogar fauler als die übrigen Österreicher? Hat es womöglich mit einem höheren Ausländeranteil zu tun? Heikle Fragen, welche die Gemüter vieler Österreicher erhitzen, während das ohnehin schon unterkühlte Klima zwischen Bundes- und Wiener Stadtregierung durchaus den frostigen Temperaturen in diesen Wintertagen entspricht. Da muß schon jemand hinter dem Mond leben, der das noch nicht bemerkt hat.

Apropos: Es sollte öfter eine Mondfinsternis geben, denke ich und überlege, den Wecker fortan eine halbe Stunde früher zu stellen.