© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/19 / 01. Februar 2019

Niemand will prekär leben
Trivialliteratur: Feminismus, Antikapitalismus und der Haß auf das weiße, republikanische Amerika
Markus Brandstetter

Am Schluß ist das Haus der Familie Richardson bis auf die Grundmauern niedergebrannt – angezündet von der fünfzehnjährigen Tochter des Hauses. Das großzügige Anwesen in einem Stadtteil von Cleveland im US-amerikanischen Ohio ist nur noch ein rauchender Trümmerhaufen. Mrs. Richardson, die hyperordentliche, stets hilfebereite, dauerengagierte Hauptfigur dieser Geschichte, die immer weiß, was richtig und was falsch ist, steht vor den Scherben ihrer Existenz. Das ist das Ende eines recht erfolgreichen Unterhaltungsromans der chinesisch-amerikanischen Autorin Celeste Ng (gesprochen „Wu“), der in der deutschen Übersetzung „Kleine Feuer überall“ heißt und auch in Deutschland viele Leser gefunden hat.

Das Erstaunliche an diesem Roman ist nicht sein Ende – in der Trivialliteratur brennen Burgen, Schlösser und Herrenhäuser mindestens seit Daphne du Mauriers „Rebecca“ zu Tausenden ab –, sondern die Bewertung dieser Konflagration durch die Autorin. Die sagt nämlich: das geschieht den Richardsons recht. Wer so strukturiert, wohlhabend, bürgerlich, arbeitsam und philanthropisch-wohlmeinend ist wie Helena Richardson, ihr Mann und ihre vier Kinder; wer vier dicke Autos besitzt, einen Aufsitzmäher, eine Schneefräse und ein Riesenhaus mit Dreifachgarage – der hat es verdient, unterzugehen.

Dies ist das Fazit einer Geschichte, die 1998 spielt und damit beginnt, daß Helena Richardson der alleinerziehenden Mia, von Beruf Künstlerin und Mutter der fünfzehnjährigen Pearl, eine Doppelhaushälfte günstig vermietet, weil sie auf ihre freundliche, aber penetrante Art der mittellosen Mia helfen will. Die beiden Familien kommen sich daraufhin außerordentlich nahe. Mia beginnt bei den Richardsons zu putzen, und ihre Tochter freundet sich mit einem der Richardson-Söhne an. Eine Zeitlang sieht es so aus, als würde eine privilegierte Familie einer weniger privilegierten aus reinem Altruismus unter die Arme greifen, was für alle gut ist. Aber der schöne Schein trügt.

Die spätere Katastrophe beginnt vollkommen harmlos: Helena Richardsons beste Freundin Linda – ebenfalls weiß, ebenfalls wohlhabend und genauso hyperordentlich, aber weniger fruchtbar – adoptiert ein chinesisches Baby, das in Cleveland ausgesetzt wurde. Aber ihr Mutterglück währt nur kurz, denn Bebe, die chinesische Mutter des Kindes, taucht plötzlich auf und reklamiert ihr Kind für sich. Dabei hilft ihr ausgerechnet Mia, was Mrs. Richardson erzürnt und sie anstachelt, deren Vergangenheit genauer unter die Lupe zu nehmen. Mia, stellt sich heraus, hat einst gegen gute Bezahlung als Leihmutter für eine reiche Banker-Familie fungiert, das Kind aber nie übergeben, sondern es selber aufgezogen. Das weiß aber keiner, auch Mias Tochter Pearl nicht, der von ihrer Mutter sowieso dauernd erklärt wird, daß Väter nicht wichtig seien.

Als eine der Richardson-Töchter mit sechzehn ungewollt schwanger wird und das Kind mit Pearls Unterstützung und Mias Verständnis abtreibt und Mr. Richardson, ein Anwalt, die Adoptivmutter des chinesischen Babys gegen ihre leibliche Mutter vor Gericht vertritt und gewinnt, beginnt die Katharsis. Mrs. Richardson konfrontiert Mia mit deren Vergangenheit und schmeißt sie aus der Wohnung, muß dabei aber erfahren, daß die eigene behütete Tochter mit Mias voller Billigung heimlich abgetrieben hat, während die anderen Kinder der Richardsons wegen des Adoptionsprozesses Stellung gegen den eigenen Vater beziehen, den sie einen „Kinderräuber“ nennen. Und jetzt geht alles ganz schnell: Mia und ihre Tochter flüchten aus Cleveland, während die jüngste Tochter der Richardsons das Elternhaus anzündet und danach auf Nimmerwiedersehen verschwindet.

So weit, so trivial, könnte man sagen. Wäre da nicht der erstaunliche und durchaus ungewöhnliche Unterton, der sich durch das ganze Buch zieht und dem Leser sagt: Das normale, bürgerliche, wohlgeordnete Leben amerikanischer Vorzeigebürger ist es wert, zu Asche zu werden. Alles in diesem Buch ist besser als das Leben der Richardsons, das, daran läßt die Autorin keinen Zweifel, eine verlogene Scharade darstellt. 

Mia, die kein Geld, keine Möbel und keine feste Anstellung hat, Männer haßt, mit ihren Eltern seit Jahrzehnten kein Wort redet, ihre Tochter über deren Herkunft stets im unklaren läßt, weil Männer vielleicht als biologische Samenspender, nicht aber als Väter wichtig seien, ist besser als die Richardsons.

Bebe, die chinesische Mutter, die weder Beruf noch Geld, noch einen Mann noch eine Zukunft besitzt und ihr Kind mitten im Winter an der Feuerwache von Cleveland ausgesetzt hat, ist ebenfalls besser als jede gutbetuchte amerikanische Adoptiv-Mutter, weil Kinder zwar keine Väter, wohl aber die biologische Mutter brauchen. Und bei einer chinesischen Mutter spielt nun genau das, was bei weißen Amerikanern so total verpönt ist, nämlich Herkunft, Ethnie und kulturelle Identität, eine zentrale Rolle, welche rechtfertigt, daß die Chinesin ihr Kind bei Nacht und Nebel aus dem Haus seiner legitimen Adoptiv-Eltern holt und mit dem nach China entschwindet.

Ebenso wichtig wie die Ablehnung bourgeoiser Wohlanständigkeit ist in diesem Buch die Befürwortung von Teenie-Promiskuität und einem lockeren und absolut entspannten Umgang mit der Abtreibung. Die Kinder der Richardsons sind, obwohl noch auf der High-School und damit jünger als siebzehn, alle sexuell bereits schwer unterwegs, was selbstverständlich keinerlei Anlaß zur Sorge gibt. Als die sechzehnjährige Lexie von ihrem Freund aus bester schwarzer Familie schwanger wird, ist der mit einfühlsamer Detailfreude geschilderte Besuch in der Abtreibungs-Klinik eine organisatorische und moralische Lappalie, nicht problematischer als eine Zahnreinigung. Bei Bauchschmerzen am Folgetag hilft ein Kräutertee. 

Feminismus, Antikapitalismus und der Haß auf das weiße, republikanische Amerika sind also in der Unterhaltungsliteratur angekommen. Die Ideen, die Celeste Ng hier in Romanform verkündet und von einem allwissenden Erzähler, der dem Leser verbindlich sagt, was er zu denken hat, vortragen läßt, sind alt. Sie stammen aus den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, aus der Frauenbewegung und dem Populär-Marxismus.

Daß diese Ideen irgendwann den Weg in die Trivialliteratur finden würden, war klar, denn sie dominieren Politik, Journalismus und den liberalen gesellschaftlichen Diskurs seit Jahren. Ebenso klar ist, daß kein Mensch im echten Leben das prekäre, halt- und bindungslose Leben Mias oder Bebes führen will. Aber Literatur und Leben waren ja noch nie das gleiche.