© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/19 / 01. Februar 2019

„Also mitten hinein in unsere Materien“
Literatur: Zur Edition des Briefwechsels zwischen Arno Schmidt und Hans Wollschläger
Dirk Glaser

Auch ein blindes Huhn findet mitunter ein Korn. So witterte Professor Walter Jens, Altphilologe, Literaturkritiker und Möchtegern-Lessing der Bonner Republik, in seinem Nachruf auf dem zu Pfingsten 1979 im Kreiskrankenhaus von Celle 65jährig verstorbenen Schriftsteller Arno Schmidt, dem „Freund des Zettelkastens und der Metagrammatik“, dem „Sammler, Avantgardisten, Spracherneuerer“, den Gefühlslinke ursprünglich als einen der ihren vereinnahmt hatten, einen „konservativen Ideologen“, gar einen „geheimen Geistesverwandten Ernst Jüngers“.

Jens’ Verdacht konnten zwei andere namhafte Nachrufer nur bestätigen. Walter Kempowski erinnerte in derselben Ausgabe der Zeit (15. Juni 1979) an den Autor, der den „modischen Linken“ schon lange mißfiel, den Sonderling, der außerhalb des „Böll-Grass-Lenz“-Horizonts der 08/15-Feuilletonisten überhaupt „nicht mehr existierte“. Und der politisch weitaus schärfer urteilende Armin Mohler, der damals noch in der Welt (Ausgabe vom 8. Juni 1979) brillieren durfte, rühmte dem hochgebildeten, verschollene Reiche unserer Kultur erschließenden, wortgewaltigen „deutschen Céline“ nach, er habe seinem einstigen „Chef“ Ernst Jünger von Anbeginn an, mit dessen  Erstling „Leviathan“ (1949), imponiert als der „Dichter“, der die nach dem Zweiten Weltkrieg produzierenden Literaten des tristen Zuschnitts „Gruppe 47“ allesamt „meilenweit“ überragte.

An diese Wahrnehmung Schmidts als „Konservativen“ zu erinnern, ist von hohem Reiz. Denn seit dem Tod des „Solipsisten in der Heide“, der sich 1958 in der Einsamkeit Bargfelds eingeigelt hatte, hilft ein finanzstarker Stifter dessen Werk zu betreuen und zu verbreiten, der nie als Konservativer von sich reden machte: der Hamburger Zigaretten-Erbe Jan Philipp Reemtsma. Der paßte 1977, noch als Germanistikstudent, sein menschenscheues Idol am Bargfelder Dorfteich ab, um zunächst 350.000 D-Mark als Äquivalent für den ihm schändlich vorenthaltenen Literaturnobelpreis zu offerieren und sich ihm dann mit Erfolg als Mäzen anzudienen. Die mit Reemtsmas Millionen gefütterte Arno-Schmidt-Stiftung sorgt mithin seit bald vierzig Jahren dafür, diesen Wortwelterbauer, dem auch galligste Kritiker nicht den Rang des sprachmächtigsten deutschen Prosaisten nach 1945 bestritten haben, für einen so kleinen wie elitären Leserkreis präsent zu halten.

Geistesverwandte Außenseiter

Auf diesen harten Kern von, wie heute zu vermuten ist, überwiegend mit Reemtsma gealterten, weißen, heterosexuellen, männlichen  Bewunderern des würdigsten Nachfolgers der von ihm so geliebten „Schreckensmänner und Gehirntiere“ der Goethe-Zeit, ist auch die Auflage von bescheidenen 2.500 Exemplaren berechnet, mit der die Stiftung als vierten Band ihrer Arno-Schmidt-Brief-

edition die Korrespondenz des Bargfelder Eremiten mit Hans Wollschläger vorlegt. 

Zu erwarten war, wie Rezensenten der „Leitmedien“ den von der Schmidt-Gemeinde heiß ersehnten 1.000seitigen Ziegelstein begrüßen würden. Bei aller einschüchternden sprachlichen Virtuosität, so lautet der mißgünstige Tenor, spiegle sich darin doch einmal mehr Schmidts berüchtigter „Größenwahn in der provinziellen Abgeschiedenheit seiner Existenz“, die Antiquiertheit der den Briefwechsel dominierenden, „entbehrlichen“ Beschäftigung mit dem Vielschreiber Karl May wider, die 2019 einfach keine „angenehme Lektüre“ mehr sei.

Solche Verdikte zählen indes nur zu den instinktiven Abwehrreflexen, die Schmidts Arbeiten bei weniger Belesenen auslöst. Spätestens seit seiner Goethe-Preisrede von 1973, in der er seine 100-Stunden-Woche an der Schreibtischgaleere gegen die notorisch „unterarbeitete“ westdeutsche Konsum- und Freizeitgesellschaft ausspielte, gehört es zur Kritikerroutine, enthemmt über den „Elite-Fimmel“ und den „oberlehrerhaften Bildungsdünkel“ des sozial isolierten „Kulturschutt-Sammlers“ herzuziehen.    

Das derart abgekanzelte Zwiegespräch geistesverwandter Außenseiter, die unbekümmert um die „Forderungen des Tages“ (Thomas Mann) „mitten hinein in unsere Materien“ springen, beginnt im September 1957 und endet faktisch mit einem Schreiben an den „lieben Herrn Wollschläger“ im Mai 1967. Zu dieser Zeit bricht Schmidt nicht nur zu Wollschläger, der sich bis 1972 vergeblich um Wiederanknüpfung bemüht, jeden Kontakt ab, um „Zettels Traum“ zu vollenden, diese Legende von einem Buch, das 1970 als Faksimile des 1.330 mehrspaltigen DIN-A-3 Originaltyposkripts erschien und das dem Verfasser erstmals ein respektables Medienecho bescherte, dessen Nachhall ihm 1973 den Goethe-Preis bescherte, ebenbürtig plaziert zwischen Georg Lukács (1970) und Ernst Jünger (1981). 

360 Briefe, von denen manche, in den Jahren des intensivsten Austausches (1961/63), bis zu sieben Druckseiten füllen, brachte der Herausgeber Giesbert Damaschke zusammen. Mit den wohl aus ökonomischen Rücksichten leider nicht allzu üppig ausgefallenen Anmerkungen beanspruchen sie knapp 800 Seiten. Den keineswegs unwichtigen Rest der Edition füllt der Austausch Wollschlägers mit der zu ihm brieflich Fühlung haltenden Alice Schmidt, der Ehefrau, sowie Dokumentenanhang, Bibliographien und Register. 

Den thematischen, alle sonstigen gemeinsamen Interessen, James Joyce und Edgar Alan Poe eingeschlossen, in den Schatten stellenden Schwerpunkt bildet das Werk des damals von der Literaturwissenschaft  bestenfalls als Jugendbuchautor akzeptierten „Winnetou“-Erfinders Karl May (1842–1912). Ein FAZ-Artikel Schmidts über diesen „vorletzten deutschen Großmystiker“ stiftete die Verbindung zu dem 20 Jahre jüngeren studierten Kirchenmusiker, der von 1957 bis 1970 als „fester freier“ Mitarbeiter im Bamberger Karl May Verlag tätig war. Beide Briefpartner bereiteten biographische Studien über den „kümmerlich unterbewerteten“ Poeten vor, dessen wahre Stärke sie in den „großen Symboldichtungen“ des Alterswerkes erkennen wollten; eine Einschätzung, an die Hans Jürgen Syberbergs Melodram (1974) anknüpft, das Karl Mays Mythenproduktion als Spiegelbild der ewig auf Weltrettung und Errichtung eines „Reichs der Edelmenschen“ versessenen deutschen Volksseele inszenierte.

Die Abkehr vom politischen Getümmel gelingt perfekt

Während Schmidt und Wollschläger sich autodidaktisch zu Pionieren der May-Forschung ausbilden, nimmt die Weltgeschichte ihren kurvenreichen Verlauf: Kalter Krieg, Kuba-Krise, Vietnam, Algerien, Kongo, Mauerbau, dazu die inneren Gärungen in der Bonner Republik, in diesem Dezennium zwischen „Wirtschaftswunder“ und dem Kultursturz von „1968“. Von all dem findet sich in der Korrespondenz so gut wie nichts. Die Abkehr vom politischen Getümmel gelingt perfekt. Das gilt auch für den Kulturbetrieb. Obwohl erstaunlich gut vernetzt, bleibt Schmidt den Karawansereien der Literatur fern, geht nicht auf Lesereisen, besucht keine Tagungen.

Sein Zögling Wollschläger tut es ihm gleich. Deshalb fehlt der sonst in solchen Briefwechseln schockweise überlieferte Kollegentratsch. Ein paar Hiebe finden sich zwar, gegen Günter Grass wegen seiner uninformierten Rede auf den Fontane-Preisträger Schmidt („klauig abgepflückte Lesefrüchtchen“), über den „böllenden, aber nicht beißenden“ Heinrich Böll („es lohnt sich die Fahne zu hissen, wenn mal ein geschärftes Stückchen Bild aus dem Sud herauftaucht“), gegen einige der von ihnen in harter „Brotarbeit“ übersetzten US-Modeautoren wie James Baldwin („elendes Machwerk“) –, aber diese und ähnliche Abfertigungen sind mit der Lupe zu suchen.

Was ist an der in solcher Radikalität aus keinem der bisher publizierten Briefwechsel bekannten Verweigerung der Zeitgenossenschaft, an diesem sich hochmütig ausnehmenden Dagegen-Leben und der Absonderung von der Norm der Vielen „konservativ“? Präziser als alle sich auf die Texte des großen Pan stürzenden „Dechiffrier-Syndikate“ hat es Hans Wollschläger in einem Interview kurz nach Schmidts Tod auf den Punkt gebracht. Mit der Verwandlung der eigenen Existenz in „reine Literatur“ stellte sich Schmidts „Ahnen- und Enkeldienst“ in den Überlieferungszusammenhang großer Kultur. Von Jugend an im Bann der pessimistischen Gesänge Arthur Schopenhauers, schien es diesem furchtlosen „Ritter vom Geist“ inmitten der Sinnlosigkeit der Welt einzig sinnvoll zu sein, „Literatur zu machen“ und nicht politischem „Fortschritt“ oder ideologischen Patentrezepten zu vertrauen. Hierin dem sonst wenig geliebten Friedrich Hölderlin nah: „Was bleibet aber, stiften die Dichter.“

Arno Schmidt: Der Briefwechsel mit Hans Wollschläger, Suhrkamp, Berlin 2018, 1.034 Seiten, Abbildungen, gebunden, 68 Euro