© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/19 / 01. Februar 2019

Der Teufel setzt die Obergrenze
Bissige Gesellschaftssatire: Timur Vermes beschreibt in seinem Roman „Die Hungrigen und die Satten“ eine riesige Migrationswelle
Felix Dirsch

Manches belletristische Szenarium bewegt sich so nahe an der Wirklichkeit, daß es unmöglich als originell gelten kann. Daher wird das Sujet von Timur Vermes’ Roman „Die Hungrigen und die Satten“ niemanden vom Hocker reißen. Es erinnert an die mehrtausendköpfige Einwanderer-Karawane aus Lateinamerika, die freilich an der US-Grenze vom amerikanischen Militär aufgehalten wurde. Die Eintrittswilligen forderten vom US-Präsidenten ultimativ eine höhere Geldsumme oder bereitwilligen Einlaß; ansonsten, so drohten sie, käme es zum Sturm auf die Bastion. Selten wird wohl die eigene Verhandlungsposition derart überschätzt worden sein. Die Angst des Präsidenten dürfte sich ob einer solchen Ankündigung in Grenzen gehalten haben. Als bizarr wird man dieses Spektakel, dessen Geldgeber und Anstifter sich vornehm im Hintergrund halten, durchaus bezeichnen dürfen. 

Der Autor des verfilmten Erfolgstitels „Er ist wieder da“ (zwei Millionen verkaufte Exemplare!) hat den Nachfolger schon vor den Ereignissen im Niemandsland zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten auf den Markt gebracht. Dabei ist er von den Feuilletons deutlich zurückhaltender aufgenommen worden als das famose Debüt. Diese Vorbehalte hat auch Vermes bemerkt. Nicht zuletzt aus diesem Grund wohl meinte er sich in einem Interview mit dem Spiegel von Jean Raspails Dystopie „Das Heerlager der Heiligen“ abgrenzen zu müssen. Polemisch war sogar von „literarischen Gaskammern“ die Rede, die der Franzose erschaffen habe, als er vor fast fünf Jahrzehnten die Invasion nach Europa hellsichtig antizipierte.

Umherirrende wollen nach Europa aufbrechen

Was schon lange im Gespräch ist, sich aber aus praktisch-humanitären Motiven heraus noch nicht hat umsetzen lassen, wird bei Vermes zum Gegenstand einer komischen Erzählung: Lager mit einer größeren Zahl von Menschen in der nordafrikanischen Wüste. Frau Merkel ist mittlerweile im Ruhestand. Die Nachfolger haben längst Verträge mit nord-afrikanischen Staaten abgeschlossen, die das Millionenheer an Umherirrenden gegen hohe Geldzahlungen aufhalten sollen.

Die meisten von ihnen sitzen nunmehr fest; Mama Merkel ist nicht in Sicht, die die Bemitleidenswerten hereinläßt. Eine Durchquerung der Wüste kommt einem Todesurteil gleich. Nichts geht mehr. Was soll geschehen?

Die prominente Moderatorin Nadeche Hackenbusch will diesen Stillstand nutzen, endgültig berühmt zu werden. Ihre Bezeichnung als „Engel im Elend“ eignet sich perfekt als Titel einer Show, die das Zeug zum Quotenrenner besitzt. So macht sie sich auf und will den üblichen TV-Klamauk nach Afrika verlegen. Ihr Leben wird haarklein dargelegt: ihre Scheidung, die Affären ihres Mannes, das Schicksal der Kinder und am Ende ihr Tod. Frau Hackenbusch legt sich ins Zeug. Sogar Psychologen lassen sich über die Belastungen aus, denen sie ausgesetzt ist. Niemals hat Wichtigtuerei und Profilierungssucht einem besseren Zweck gedient. Mitgebrachte BHs sollen die Lage der Armen ein wenig hoffnungsfreudiger gestalten. Castingshows können schließlich auch in den Camps ausgestrahlt werden.

Bald brechen Kamerateams auf. Lionel wird zu ihrem Führer durch die Lager gewählt. Die Medienpräsenz nutzt er, um mit 150.000 Flüchtlingen gen Europa aufzubrechen. Selbst die Figur des Mose wird für ihn bemüht. Als Mutmacher! Schließlich brachte Mose einen strapaziösen Marsch durch die Wüste hinter sich. Das Gelobte Land sah er freilich nur aus der Ferne. Solche biblischen Anspielungen, da ist sich der Erzähler sicher, können kaum Hoffnung wecken, verdeutlichen sie doch eher die Gefahr des Scheiterns.

Allerlei Beteiligte kommen zu Wort: Lagerinsassen, kriminelle Schlepper, „besorgte Bürger“, mehr oder weniger anteilnehmende Politiker und andere. Der Spaß hört spätestens da auf, wo man sich Gedanken über die Zukunft Europas macht. Wann wird sich die Masse in Bewegung setzen? Wird sie überhaupt aufbrechen? Natürlich stammt der Innenminister aus den Reihen der CSU: Joseph Leubl rückt in den Vordergrund etlicher Debatten. Franz Josef Strauß fehlt selbstverständlich auch nicht. O Wunder, man streitet sich heftig darüber, welches Verhältnis er zur AfD gepflegt hätte. Es rumort. Sogar die Gründung von Bürgerwehren wird in manchem Gespräch erwogen. Selbstschußanlagen und Schießbefehl sind noch aus Zeiten der früheren innerdeutschen Grenzen präsent.

Wie die Zeitgenossen in der grauen Realität sind sich auch die fiktiven Diskutanten nicht über eine Strategie zur Problemlösung einig: Zäune erscheinen ebensowenig als Patentlösung wie großzügige Türöffnung, die zur Folge hätte, daß die AfD noch stärker zulegte. Langsam kristallisiert sich der soziale Aspekt an der Satire heraus. Man denkt nach, in welcher Gesellschaft man leben möchte und in welcher man tatsächlich lebt. Zu klaren Entscheidungen kommt man bei solchen Auseinandersetzungen erfahrungsgemäß nicht.

Vermes’ Roman mag hier und da zum Schmunzeln anregen. Er ist aber streckenweise zu langatmig geraten; zudem nervt es, ständig neue Namen zu lesen, die man bald darauf wieder vergessen kann. Politisch-korrekte Gesinnungsschnüffler haben in dem Werk nach Stellen gesucht, die den Autor diskreditieren sollen. Sicher gibt es die! Zahlreicher sind jedoch jene Passagen, die an die Fraktion der Bahnhofsklatscher gerichtet sind. Man muß sich also keine Sorgen machen, daß der Autor in falsche Richtungen abgleitet. Zeitgeistkonforme Linientreue bewirkt aber noch keinen herausragenden Stil. Vermes’ zweiter Roman wird den hochgesteckten Erwartungen nicht ganz gerecht.

Timur Vermes: Die Hungrigen und die Satten. Roman, Eichborn-Verlag, Frankfurt am Main 2018, gebunden, 509 Seiten, 22 Euro