© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/19 / 01. Februar 2019

Künstliche Intelligenz im Epochenwechsel
Welche Arbeit bleibt
Johannes Eisleben

Im Laufe seiner Entwicklung hat der Homo sapiens zwei Kulturschwellen erreicht. Die erste wurde beim Übergang vom nomadischen Jäger- und Sammlertum zur Seßhaftigkeit im Neolithikum überschritten, ein Prozeß, der viele Jahrhunderte dauerte und in der Epoche der Agrarkultur, Urbanisierung und Staatsbildung mündete, die von etwa 3.500 v. Chr. bis zum 18. Jahrhundert dauerte. Dann begann die industrielle Revolution, und seitdem befinden wir uns im Übergang von der Agrarkultur zur Technosphärenkultur, ein Prozeß, den Arnold Gehlen „Neue Kulturschwelle“ nennt (in: „Die Seele im technischen Zeitalter“, 1957).

Wie schon das Neolithikum bringt dieser neue Epochenwechsel fundamentale Veränderungen unserer Lebensweise und Bewußtseinsbildung mit sich. Zwei universelle Kräfte, beides Residuen der Aufklärung, stehen im Zentrum dieses Prozesses: Rationalismus und Massenkonsum. Der Rationalismus führt letztlich zu einer totalen Optimierung der Verarbeitung aller inneren und äußeren Daten, die der Mensch sich zu eigen macht. Der Massenkonsum treibt die Entwicklung ökonomisch voran. Im 19. Jahrhundert ermöglichten rationale Technologien wie Mechanisierung, Elektrifizierung, technischer Einsatz von Chemie und industrielle Massenproduktion den Massenkonsum, im 20. Jahrhundert kamen unter anderem Massenmobilität mit einem fundamentalen Wandel der Siedlungsmuster und Infrastruktur, Massenmedien, Gesundheits- und Biotechnologie, Robotik, Nanotechnologie und Digitalisierung hinzu.

Dieser Prozeß der Durchrationalisierung unserer gesamten Lebenswelt zur Technosphäre ist genau wie der Übergang zur Seßhaftigkeit im Neolithikum unumkehrbar und wird bald das Leben aller Menschen der Erde bestimmen, unabhängig davon, in welcher Staatsform sie sich vergesellschaften. Es gibt keinen Weg zurück in die Agrarkultur, und das hat Folgen. Aber welche? Betrachten wir ein wichtiges Beispiel.

Eine wesentliche Ausprägung der Digitalisierung ist die sogenannte Künstliche Intelligenz (KI), eine derzeit die Automatisierung fundamental verbessernde Familie mathematischer Verfahren, an der sich zeigen läßt, wie die Technosphäre unser Leben revolutioniert. Das Thema KI wird heute – meist von Geisteswissenschaftlern – auf hysterische und vollkommen fiktive Weise beschrieben; angeblich sei bald das „Zeitalter der Singularität“ erreicht, in dem Maschinen „intelligenter“ als der Mensch und ihn beherrschen würden. Es stellten sich jetzt neue Fragen nach dem Verhältnis von inferiorem Mensch und überlegener Maschine, zur Ethik der Maschine etc. Woher diese Hysterie? Was hat es mit KI auf sich, wenn man das Phänomen nüchtern im Rahmen seiner wirklichen technischen Möglichkeiten betrachtet?

Durch KI werden alle repetitiven Tätigkeiten automatisiert. Der Wandel wird ähnlich extrem sein wie in der Landwirtschaft, in der um 1800 die Mehrheit der Menschen arbeitete, die heute aber nur noch fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung beschäftigt.  

Unter KI verstehen wir mathematische Verfahren zur Mechanisierung menschlicher manueller Arbeit oder zur Automatisierung geistiger Arbeit, die als Programme in Rechenmaschinen ablaufen. Dabei wird die Arbeit als Vorgang angesehen, der Material von einem Zustand (Input) in den anderen (Output) bringt. Das können im Bereich physischer Arbeit Schritte beim Zusammenbau einer Maschine sein, die heute noch Menschen durchführen, oder bei mental-physischer Mischtätigkeit das Fahren eines Lastwagens oder auch die geistige Arbeit bei der Prüfung einer Handwerkerrechnung im Rahmen der Regulierung durch eine Versicherung.

KI übernimmt Teilschritte dieser Prozesse, oftmals werden ganze Tätigkeiten automatisiert. Dafür werden der Input und der Output eines oder mehrerer Schritte mathematisch abgebildet. Dann wird für den Übergang von Input zu Output eine mathematische Funktion erzeugt, die in der Lage ist, ihn zu berechnen: Beispielsweise wird aus einer Handwerkerrechnung eine geprüfte Rechnung, indem unberechtigterweise abgerechnete Positionen mit Begründung gestrichen werden. Die mathematische Funktion, die dies tut, besteht aus einer vordefinierten Logik oder einer stochastischen Funktion, die aus sogenannten Trainings-Daten – sehr vielen Input-Outout-Tupeln – durch Optimierungsverfahren abgeleitet wird.

Diese Funktionen sind darauf angewiesen, daß die Daten, die sie verarbeiten, genau den Input-Mustern entsprechen, für die sie gemacht wurden. Sonst scheitern sie. Daher sind sie nur zur Automatisierung stark repetitiver Arbeiten einsetzbar. Eine generelle KI mit kognitiven Fähigkeiten gibt es nicht. KI ist im wesentlichen eine Anwendung von Analysis, linearer Algebra und mathematischer Logik mit Hilfe von leistungsfähigen Computern. Genau wie klassische Computerprogramme haben diese Programme kein Selbstbewußtsein und keinen Willen, es sind lediglich komplizierte Rechenanweisungen für Turing-Maschinen.

Denn wir verstehen weder menschliche Intelligenz noch menschlichen Willen, beide sind nicht durch mathematische Funktionen modellierbar. Wie Henri Bergson schon Anfang des 20. Jahrhunderts erkannt hat (in „L’Évolution créatrice“, 1907), ist nur die unbelebte Natur der mathematischen Modellierung zugänglich, das Leben ist es im wesentlichen nicht. Dies gilt nach wie vor. Daher wird es mit KI-Verfahren jetzt und auch bis auf weiteres weder willensfähige Maschinen noch „Singularität“ geben.

Doch spielt KI für die weitere Vertiefung, Verbreiterung und Durchdringung unseres Lebens mit Technik, für den massiven Ausbau der Technosphäre, eine wesentliche Rolle. Denn mindestens ein Viertel bis ein Drittel der etwa 700 Millionen Arbeitsplätze in den OECD-Staaten bestehen aus repetitiven Tätigkeiten, die mit KI automatisiert werden können. KI wird dazu führen, daß Logistik, Transport, alle mechanischen Produktionsprozesse, einfache geistige Arbeit wie Verkauf, Buchhaltung, Kundenkorrespondenz, Sachbearbeitung, Kreditvergabe, Inkasso, Verwaltungstätigkeiten, aber auch repetitive Anteile bürgerlicher Berufe wie Arzt, Anwalt, Richter, Finanzdienstleister und ähnliche automatisiert werden. Dadurch werden in den nächsten zwanzig Jahren in den OECD-Ländern ceteris paribus 175 bis 230 Millionen Arbeitsplätze wegfallen. Der Wandel wird ähnlich extrem sein wie in der Landwirtschaft, in der um 1800 die Mehrheit der Menschen arbeitete, die heute aber nur noch fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung beschäftigt.

So werden alle repetitiven Tätigkeiten automatisiert, allgemein sichtbare und wenig bekannte, die heute vielen Millionen von Menschen Arbeit geben. Dadurch wird die Technosphäre erweitert und verdichtet, ihr feines Netz aus materiellen Artefakten wie Bauwerken, Maschinen, Sensoren und Sendern, die eine Vielzahl von elektromagnetischen Wellen zur Übertragung von Daten erzeugen, legt sich immer enger über unsere Lebenswelt, durchdringt und prägt sie.

Der Übergang von der Agrar- zur Technosphärenkultur dauert erst seit gut zweihundert Jahren an, der damit verbundene Bewußtseinswandel, die Stabilisierung der inneren Haltung zur Technosphäre, aber wird noch Jahrhunderte dauern.

Für den Menschen bleiben und entstehen neue Tätigkeiten, die nicht mathematisch modellierbar sind. Das sind alle Arbeiten, die aus Ketten erratischer Ereignisse bestehen: alle Berufe, in denen Gespräche erforderlich sind, selbst einfache in Call-Centern sind erratisch, jegliche Form der Zuwendung, Empathie, Zusammenarbeit, Therapie, Erziehung, Bildung, Sozialarbeit, Pflege. Alle mathematischen, naturwissenschaftlichen und technischen Tätigkeiten zur Erweiterung, Pflege und Wartung der Technosphäre. Alle kreativen Berufe. Alle bürgerlichen Berufe abzüglich des repetitiven Anteils. Alle Berufe, in denen urteilsabhängige oder ethische Entscheidungen getroffen werden müssen. Außerdem alle Berufe, die zwar repetitiv sind, für die sich Automatisierung aber nicht lohnt, weil sie sich beispielsweise mit Luxusgütern mit kleinen Stückzahlen beschäftigen.

Wie auch zu Beginn des Industriezeitalters wird aus dem gesteigerten volkswirtschaftlichen Output Nachfrage nach neuen Tätigkeiten entstehen. Der Wandel der Berufswelt wird allerdings große Herausforderungen mit sich bringen, weil die verbleibenden Tätigkeiten geistig anspruchsvoller sind als die repetitiven Arbeiten, die heute noch Menschen verrichten.

Doch derzeit konzentrieren sich viele Autoren in Unkenntnis der mathematischen Zusammenhänge mit Erfolg darauf, Ängste vor KI zu schüren, anstatt dazu beizutragen, den unvermeidlichen Wandel mitzugestalten. Warum? Weil der Übergang von der Agrarkultur zur Technosphärenkultur erst seit gut zweihundert Jahren andauert, der damit verbundene Bewußtseinswandel, die Stabilisierung der inneren Haltung der Menschen zur Technosphäre, aber noch Jahrhunderte dauern wird.

Wir befinden uns – ähnlich wie Nomaden, die im Neolithikum zuerst noch an ihren alten Tiergottheiten und den damit verbundenen Riten festhalten wollten – in einer labilen Übergangszeit. Viele Menschen haben noch nicht verinnerlicht und akzeptiert, daß mathematisch-naturwissenschaftliche Rationalität in Verbindung mit Massenkonsum unabänderlich die Fundamentalparadigmata unserer Epoche geworden sind und alle archaischen Restkulturen, die sich diesem Wandel nicht angleichen können, verschwinden werden. Wir müssen uns damit auseinanderzusetzen, wie die Technosphäre sinnvoll gestaltet werden kann, wo man Technologie einsetzen und wo man es lieber lassen sollte oder wie das Problem der Begrenzung des staatlichen Gewaltmonopols angegangen werden kann, wenn Technologie immer größere Gewalt erlaubt.

Doch seit ca. 60 Jahren entsteht aus dem Schmerz und der Angst vor dem unaufhaltsamen Wandel der Lebenswelt zur Technosphäre ein ökologischer, antirational-magischer Eskapismus. Dieser hat sich in einer Epoche herausgebildet, die absolut immer mehr Energie verbraucht. Doch die Protagonisten dieses Ansatzes wollen die Nutzung aller hochverdichteten Energiequellen abschaffen, den Personen- und Gütertransport einschränken sowie moderne biotechnologische und verdichtete Zucht- und Anbauverfahren durch „Bioverfahren“ mit geringer Dichte ersetzen. Zusätzlich wollen sie Technologie so regulieren, daß sie ökonomisch nicht mehr sinnvoll eingesetzt werden kann und auch die freie Forschung einschränken. Doch so viel politischer Ärger damit auch verbunden ist: durchsetzen werden sich die Gesellschaften, die das Paradigma der Technosphäre optimal einsetzen.






Johannes Eisleben, Jahrgang 1971, ist Mathematiker und arbeitet als System­informatiker. Mit seiner Familie lebt er bei München. Eisleben publiziert auf dem Portal achgut.com sowie in Tumult. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Erhalt unserer Kultur und Zivilisation als Schicksalsfrage unserer Zeit („Macht und Identität“, JF 2/19).

Twitterprofil: @j_eisleben

Foto: Begegnung mit menschengemachten Boten einer neuen Ära: Verfahren Künstlicher Intelligenz bringen fundamentale Veränderungen unserer Lebensweise und Bewußtseinsbildung mit sich. Für Hysterie besteht allerdings kein Anlaß.