© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/19 / 01. Februar 2019

Es ging um Völkerindividualitäten
Der Weise von Tegel als Sprachphilosoph: Nachträge zu Humboldts 250. Geburtstag
Dirk Glaser

Totgesagte leben länger. Eine Weisheit, die die Wortmeldungen zu Wilhelm von Humboldts 250. Geburtstag im Sommer 2017 bestätigen (zuletzt JF 16/18). Die fielen nämlich erfreulich zahlreich aus. Was nicht zu erwarten war in Anbetracht der Grabreden, die seit Beginn der „Bologna-Reform“ vor zwanzig Jahren permanent zu hören sind, und die leichten Herzens das 1809 von ihm konzipierte preußisch-deutsche Modell „höherer Bildung“ im Gymnasium und an der Universität verabschiedeten. 

Orchideenfach Deutsch in einer „Legitimationskrise“

Der Bildungspolitiker Wilhelm von Humboldt (1767–1835) stand denn auch 2017 konsequent im Mittelpunkt der Bücher und Aufsätze, die sich um den Nachweis seiner „Aktualität“ bemühten. Weniger Beachtung, abgesehen von der Würdigung der Edition seiner sprachwissenschaftlichen Schriften und Briefe durch die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften,  fand hingegen der Teil des Werks, das den Weisen von Tegel als einen der großen Begründer der Sprachwissenschaft ausweist. Und das, obwohl der letzte Lebensabschnitt seit 1820, nach dem Ausscheiden aus dem Staatsdienst, ihm selbst als der fruchtbarste seiner Gelehrtenexistenz galt.

Um mit leichter Verspätung auch des Sprachphilosophen von Humboldt zu gedenken, haben ihm die Herausgeber von Der Deutschunterricht (2/2018), einer Fachzeitschrift für Didaktiker, ein Themenheft gewidmet. Es verspricht, dessen späte Studien zur Sprachforschung als „Inspiration für den Deutschunterricht im 21. Jahrhundert“ nutzen zu können. Im Kranz der Beiträge erweist sich dann aber dieser Aspekt als eher unterbelichtet. So befaßt sich Dorothea Jecht, die im jordanischen Amman lehrt, lediglich mit der Frage, was „Humboldts Sprachprojekt“ als Grundlage einer kulturwissenschaftlichen Didaktik im „Deutsch für Ausländer“-Unterricht leiste. Sie geht dabei von einer „Legitimationskrise“ aus, in der das Orchideenfach Deutsch als Fremdsprache (DaF) seit langem stecke. Weltweit sinke die Zahl der Deutschlehrer, Berufsaussichten für DaF-Absolventen verdüstern sich und zudem werde die Wissenschaftlichkeit des relativ jungen Faches „fundamental“ in Frage gestellt. 

Die Rückbesinnung auf Humboldt soll da helfen. Von ihm könne man lernen, daß Sprachvermittlung und Kulturvermittlung zusammengehören. Eine Erkenntnis, die zwar schon in der Weimarer Republik die „kulturkundliche Wende“ in den neuphilologischen fremdsprachlichen Disziplinen bewirkt hat, die Jecht aber jetzt auf die Vermittlung der eigenen Sprache angewendet wissen will. Mit der freilich Humboldt noch sehr fern liegenden Absicht, Fremden nicht vornehmlich die deutsche Sprache und Kultur zu vermitteln, sondern im Austausch mit ihnen „interkulturelle Kompetenz“ zu erwerben und irgendwie zur „Bewältigung aktueller (Kultur-)Konflikte“ beizutragen, wie sie mit „Globalisierung, Migration und den dazugehörigen Integrationsfragen“ für Jecht quasi natürlich und schicksalhaft gegeben zu sein scheinen. 

Mehr ins Zentrum, der Deutschdidaktik für Muttersprachler, stößt Ulf Abraham (Bamberg) vor. Für ihn sind es vier Gesichtspunkte, unter denen Humboldts sprachphilosophische Überlegungen sprachdidaktisch wieder aktuell sind: die Idee der Sprache als Organismus, das Verhältnis von Sprache und Begriff, der Ursprung der Sprache in der Sozialität des Menschen und schließlich der Begriff des sprachlichen Stils. In der Summe bedeute dies, daß es nicht genüge, Schülern die Sprache als Regelwerk und Normensystem nahezubringen. Vielmehr sei sie kulturell bedingtes Medium, worin sprachlich-literarische Bildung reife. Was dazu führe, daß dieser „Motor der kulturellen Entwicklung aller und ebenso der Schöpfer des individuellen kulturellen Kapitals“  unweigerlich auch ein „Mittel der Abgrenzung nach außen“ sei.

Stoff nur noch in einigen Oberstufenlehrwerken

Damit trifft Abraham den sensibelsten Punkt der Rezeption des Sprachforschers von Humboldt: den „sprachnationalen Ansatz“ des Gelehrten. Im Denken wahrhaft zu sich selbst komme er nur in der Muttersprache, so schon die Überzeugung des jungen Diplomaten, der 1799 Feldforschung im Baskenland trieb. Für die „gehobenen Bedürfnisse eines reflektierten Sprachmenschen“, so zitiert der Humboldt-Biograph Michael Maurer den an Herder anknüpfenden Denker, reichten die Kenntnisse einer Zweitsprache niemals aus. Ebenfalls im Anschluß an den Ostpreußen Johann Gottfried Herder, Weimars „dritten Klassiker“, und dessen Lehre vom „Volksgeist“, stand für Humboldt außer Zweifel, daß jede Sprache eine eigene Weltansicht determiniert. Wie er überhaupt jede Individualität pries, so führt Maurer mit kritischem Unterton aus, „so ging es ihm in gesteigerten Maß um jene ‘Völkerindividualitäten’, die ‘Nationen’, die Leopold von Ranke ‘Gedanken Gottes’ nannte“.

Exakt durch dieses Konzept, auf „völkisches Denken“ deutsche Sprachwissenschaftler auszubauen und wie Leo Weisgerber das „sprachliche Weltbild“ der Deutschen gegen die sprachlichen Weltbilder fremder Kulturen und Nationen abzugrenzen, habe in den 1960ern den Einfluß der Sprachphilosophie Humboldts blockiert. Obwohl auch Humboldt das Gemeinsame in allen Sprachen, die linguistischen Universalien betonte, wollte er ihr Besonderes keinesfalls als quantité négligeable beiseite rücken. Aufgrund aber solcher „zweifelhaften Interpretationen“ wie der Weisgerbers, spielt seither, wie die Kieler Didaktiker Tobias Heinz und Jörg Kilian einleitend resümieren, Humboldts Sprachdenken „keine so gewichtige Rolle mehr“. Heute finde er sich nur noch in einigen Oberstufenlehrwerken, die ihn als jemanden erwähnen, der entdeckt habe, daß sich Weltansichten in Wörtern und Formulierungen niederschlagen, was in „weltoffenen“ Zeiten nach Rückständigkeit riecht. In der gegenwärtigen Hochkonjunktur der globalistischen Ideologie, die ethnische und kulturelle Grenzen negiert, sind das keine günstigen Voraussetzungen für die vertiefte Aneignung der Sprachphilosophie Humboldts.  

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