© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/19 / 01. Februar 2019

Erichs letztes Grenzopfer
Vor dreißig Jahren wurde Chris Gueffroy ermordet
Detlef Kühn

Am Abend des 5. Februar 1989 brach der Ost-Berliner Kellner Chris Gueffroy zusammen mit seinem Freund Christian Gaudian auf, um in Berlin vom Bezirk Treptow in den benachbarten Bezirk Neukölln zu gelangen. Daß das ein gefährliches Unternehmen werden konnte, war ihnen bewußt. Sie mußten die Staatsgrenze der DDR überqueren, die durch Mauer und Stacheldraht gesichert und durch schwerbewaffnete Grenzsoldaten gegen jede Verletzung geschützt wurde. Ihr Verhalten war als Republikflucht strafbar. 

Dennoch wollte Gueffroy, 21 Jahre alt, die DDR verlassen. Mit den politischen Verhältnissen dort war er unzufrieden. Zudem drohte seine Einberufung zum Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee. Das Risiko erschien ihm kalkulierbar; denn ein befreundeter Grenzsoldat hatte ihm gesagt, der Schießbefehl sei gemildert worden. Als Gueffroy und Gaudian den Maschendrahtzaun am grenzenden Britzer Verbindungskanal überwinden wollten, schossen vier Grenzsoldaten auf sie. Gueffroy trafen zwei Kugeln, eine davon ins Herz. Er war wohl sofort tot. Gaudian wurde schwer verletzt.

Die besondere Tragik dieses Falles – in der Zeit der Teilung Deutschlands alles andere als ein Einzelfall – liegt darin, daß Chris Gueffroy das letzte Todesopfer an der Grenze war. Nur neun Monate später, am 9. November, fiel die Mauer. Hätte er dieses Ereignis noch erlebt, hätte auch er, wenn er es noch gewollt hätte, problemlos ausreisen können.

Ebenfalls aus heutiger Sicht muß auch gefragt werden, warum die SED-Führung überhaupt so lange auf dem Schießbefehl beharrt hat, den sie offiziell leugnete und der für sie einen dauernden Imageschaden bedeutete. Schließlich ließ sie in den achtziger Jahren Zigtausende Ausreisewillige in den Westen ausreisen – sei es als sogenannte (besonders hartnäckige) „Antragsteller“ oder als freigekaufte Häftlinge oder im Rahmen von Familienzusammenführungen. Unter den Häftlingen befanden sich viele gescheiterte Flüchtlinge, darunter auch Christian Gaudian, der in der DDR noch wegen Republikflucht verurteilt und kurz darauf freigekauft wurde. Im Oktober 1989 reiste er nach West-Berlin aus. In den anderen Ausreisefällen wurden die von Bonn aufgebrachten erheblichen Geldzahlungen meist als Ersatz von in der DDR entstandenen Ausbildungskosten kaschiert. 

Das SED-Regime war ein Unrechtssystem, das unter den weltpolitischen Bedingungen fast zwangsläufig an seinen Unzulänglichkeiten scheitern mußte. An Chris Gueffroy erinnert heute nur eine Straße, die in der Nähe seines Todesortes die einstige Grenze überquert.