© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/19 / 01. Februar 2019

„Da ist noch jede Menge Luft nach oben“
Das Naturwissen in Deutschland schwindet: Vor den Arten sterben die Artenkenner aus
Dieter Menke

Am wenigsten „gespalten“ ist die deutsche Gesellschaft in ihrer Liebe zur Natur. Wie bei der fünften bundesweiten „Naturbewußtseinsstudie“ zur Vermüllung der Meere ermitteln Demoskopen Zustimmungswerte für strengere Gesetze und für die Ausdehnung von Schutzzonen, die zwischen 70 und 80 Prozent liegen. Doch scheint der Naturenthusiasmus in umgekehrtem Verhältnis zur Naturkenntnis zu stehen: „Nicht nur die Arten sterben aus, auch die Artenkenner“, klagte schon vor zwei Jahren Albert Langsdorf, Leiter der Naturschutz-Akademie Hessen.

Für Michael Kuhlmann, Professor für Insektenkunde an der Uni Kiel, ist das ein internationales Problem. Außer in Großbritannien, wo Artenkenntnis als „Gentlemen’s Hobby“ gelte, sei in Kontinentaleuropa und weiten Teilen Nordamerikas ein schmerzlicher Rückgang solcher Experten zu beobachten. In China und Brasilien werde Artenkenntnis sogar akademisch „gepusht“.

Professorenschwund und weniger Wissenstransfer

Den deutschen Negativtrend kann der Biologe Philipp Meinecke von der Stiftung Naturschutz Schleswig-Holstein nur bestätigen. Dort, wo seit 2012 ein grüner Umweltminister – bis zum August 2018 der Literaturwissenschaftler Robert Habeck, seitdem der Rechts-informatiker Jan-Philipp Albrecht – die Verantwortung für die Biodiversität im „echten Norden“ trägt, galt die Aufmerksamkeit der Förderung von bekannten Symboltieren wie dem Seeadler oder der problembeladenen Rückkehr des Wolfes (JF 4/19).

 Und soweit das Steuergeld nicht ohnehin ganz woanders hinfließt, unter Jamaika wie einst unter Rot-Grün bevorzugt in Zuwanderung, Integration und Familiennachzug, sind heute nicht mehr klassisch artenkundlich-systematisch orientierte Zoologen und Botaniker die Profiteure des Kieler Wissenschaftsetats, sondern Genetiker und Molekularbiologen. Dorthin, wo attraktivere Karrieren winken, seien auch seine Kommilitonen abgewandert, erinnert sich der 30jährige Meinecke. Die Kieler Landesregierungen hätten mit ihrem „Zugriff auf die Bildungs- und Naturschutzpolitik“ eigentlich genügend Möglichkeiten, hier gegenzusteuern und etwa Biologielehrer besser auszubilden. Stattdessen würden entscheidende Lehrstühle abgebaut.

Mit der Folge, daß mit dem Professorenschwund in der oberen Etage des Wissenstransfers auch der Mittel- und Unterbau ausdünne. Das personelle Rückgrat biologischer Breitenbildung werde porös, die früher heimat- und naturkundlich engagierten Lehrer machen sich rar. Die Wissensweitergabe werde somit blockiert, und es tue sich sukzessiv eine „generationelle Lücke“ auf. In Schleswig-Holstein gebe es heute keine vier Experten mehr, die wissenschaftlich zuverlässig Käfer taxieren könnten.

Ähnlich schildert Meinecke die Lage bei den Fachleuten für Schmetterlinge, Moose, Flechten, Pilze, Bienen und Wespen. Und die verbliebenen Experen kämen in die Jahre. Überliefern sie ihr Wissen nicht, gehe es unwiederbringlich verloren: „Die Zeit läuft ab.“ Daß der Itzehoer Steuerfachangestellte Eggert Horst im Botanischen Verein des Kreises Steinburg nicht nur der beste, sondern mit 53 Jahren laut Schleswig-Holsteinischer Landeszeitung auch der „jüngste“ Experte für die 1.000 Farn- und Blütenpflanzen seiner Region ist, spricht Bände über die Situation.

Ersten, Meineckes „generationelle Lücke“ ankündigenden Alarm funkte 2007 die „Vogel-Pisa-Studie“. 3.228 bayerischen Schülern, befragt nach ornithologischem Wissen, waren acht von zwölf der häufigsten Vogelarten unbekannt. 2010 ermittelte die „Wald-Pisa-Studie“, daß Drittkläßler durchschnittlich nur 3,7 von zwölf Baumarten sowie 4,8 von neun Tierarten der heimischen Wälder erkannten. Mit entsprechend niedrigen Erwartungen startete 2017 eine Arbeitsgruppe der Hochschule Geisenheim (Hessen), der Netzplattform Naturgucker.de und des Naturschutzbundes (Nabu) ihre Umfrage „arten|pisa“, um zu überprüfen, welches Ausmaß die vielbeschworene „Erosion der Artenkenner“ wirklich erreicht hat.

War früher alles besser?

Das Resultat, das die beiden Naturgucker-Mitarbeiter Gaby Schulemann-Maier und Stefan Munziger nun präsentieren (Naturschutz und Landschaftsplanung, 11/18), untermauert mit deprimierenden Fakten, was die Kieler Biologen Kuhlmann und Meinecke eher exemplarisch beleuchten. Zumal sich ihre Online-Erhebung an 8.033 Naturfreunde richtete, die ausgewählt wurden, weil sie zur Naturgucker- und Nabu-Facebook-Klientel gehörten. Von ihnen war also mehr als durchschnittliche Artenkenntnis zu erhoffen.

Eine unterm Strich schwer enttäuschte Hoffnung. Denn die höchstmögliche Punktzahl von 360 schafften nur drei Antwortende. 35,5 Prozent erhielten in der Schulnotenbewertung eine 4+ bis 4-, 28 Prozent gar ein Mangelhaft zwischen 5+ und 5-, während 2,3 Prozent ein glatte 6 kassierten. Zwei Drittel der Befragten wiesen somit ausreichende bis ungenügende Artenkenntnis auf. Von denen, die mit größerem Recht Expertise für sich reklamieren durften, schnitten 23 Prozent mit befriedigend, 9,5 mit gut und 1,9, die besagten drei Überflieger, mit sehr gut ab. Hätten die Fragebögen nur eine richtige und falsche Alternative angeboten und kein Teilwissen honoriert, wäre sogar der Durchschnitt überall um eine Schulnote schlechter ausgefallen.

Mit steigendem Alter erhöhten sich die Punktzahlen. Der Durchschnitt der 41- bis 75- sowie der über 75jährigen lag bei 187 (4+), die rote Laterne mit 155 Punkten (4-) trugen die unter 20jährigen. Auch diese Daten passen zu den Kieler Warnungen vor dem Zerreißen der Generationenkette. Doch Schulemann-Maier und Munziger wollen keine voreiligen Schlüsse ziehen, da sich über den naturkundlichen Wissensstand früherer Generationen, etwa der Eltern und Lehrer besser benoteter älterer Probanden, nur spekulieren lasse, was kein „Früher war alles besser“ gestatte.

Zu berücksichtigen sei zudem, daß die 36 Artfragen aus sieben Artgruppen (Vögel, Pflanzen, Schmetterlinge, Libellen, Käfer, sonstige Insekten, Spinnentiere) selbst die naturinteressierten Zielgruppen auf eine harte Probe stellten. So hielten 75 Prozent ein juveniles Rotkehlchen wegen einer täuschend ähnlichen Körperhaltung für einen Zaunkönig. Und das Foto eines Marienkäfers schaute sich nur eine Minderheit so genau an, daß sie nicht nur die mit sieben Punkten belohnte Familie, sondern die mit vollen zehn Punkten prämierten Art des Siebenpunkt-Marienkäfers ankreuzte.

Obwohl das Ergebnis von „arten|pisa“ viele Fragen aufwerfe, stehe fest: „Beim Artenwissen ist für eine Mehrheit der Teilnehmer jede Menge Luft nach oben.“ Ein Fazit, das um so mehr für die im Herbst 2019 geplante „arten|pisa“-Befragung weniger naturaffiner „Laien“ in der breiteren Bevölkerung droht.

Informationen zur „arten|pisa“-Umfrage sowie zu den Lösungen der 36 Artenfragen:  naturgucker.info/