© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/19 / 08. Februar 2019

Verträge sind so Achtziger
Aufkündigung des INF-Abrüstungsabkommens durch die USA und Rußland: Plötzlich ist die atomare Option wieder da
Christian Rudolf

Jetzt ist eingetreten, was international befürchtet worden war. Die USA steigen aus dem historischen INF-Abrüstungsvertrag mit Rußland zum Verzicht auf atomare Mittelstreckenraketen aus. Moskau zog kaum 24 Stunden später nach. Die Geduld der Amerikaner war nach unzähligen und jahrelangen Vermittlungsbemühungen am Ende. Rußland breche durch den „Iskander-K“-Marschflugkörper 9M729 die Vertragsbestimmungen, gab das Weiße Haus am Freitag zur Begründung an. Anders als von den russischen Streitkräften angegeben, könne die Cruise-Missile mit dem Nato-Namen SSC-8 nicht bloß 480 Kilometer weit ins Ziel fliegen, sondern bis zu 2.600. Der INF-Vertrag verbietet Besitz und Produktion von Mittelstreckenraketen mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometern.

Einen Tag zuvor hatte Washington die Nato-Verbündeten über den anstehenden Schritt unterrichtet. Nach ergebnislosem Verstreichen eines sechzigtägigen Ultimatums an Moskau räumte die Trump-Administration den Russen nun erneut eine Frist von diesmal sechs Monaten ein, das Abkommen nachprüfbar einzuhalten. Anderenfalls sei der Austritt endgültig.

Rußlands Präsident Wladimir Putin verkündete am Samstag vergangener Woche im Staatsfernsehen, sein Land reagiere „symmetrisch“ auf die Ankündigung der Amerikaner, die Teilnahme an dem Abkommen auszusetzen: „Wir setzen sie auch aus.“ Der Kreml wirft den USA seit längerem vor, in östlichen EU-Staaten Mittelstreckenraketen zu stationieren und durch Drohnen den INF-Vertrag zu unterlaufen.

Zugleich kündigte Putin im Beisein von Verteidungsminister Sergej Schojgu an, die Arbeit an Raketen, die durch den Vertrag untersagt waren, aufzunehmen. Rüstungskontrollgesprächen erteilte Putin eine deutliche Absage. Seit dem Gipfel in Helsinki im Juli 2018 haben Putin und Trump nicht mehr direkt miteinander kommuniziert.

Der 1987 zwischen den Vereinigten Staaten und der damaligen Sowjetunion abgeschlossene INF-Vertrag (Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty) über Abrüstung und Verbot landgestützter Mittelstreckenraketen mit nuklearen Gefechtsköpfen beendete die „Raketenkrise“ zwischen den beiden Supermächten, die von 1978 andauerte. Im Ergebnis des mit Unterbrechungen seit 1981 verhandelten Vertrags wurde eine ganze Kategorie atomarer Trägerwaffen beseitigt, ebenso deren Abschußvorrichtungen, Infrastruktur und Neuproduktion. 

Die von US-Präsident Ronald Reagan und KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow am 8. Dezember 1987 auf dem Gipfeltreffen von Washington unterzeichnete Vereinbarung galt als Meilenstein der Verständigungspolitik zur Überwindung des Kalten Krieges zwischen Ost und West. Der Vertrag trat am 1. Juni 1988 in Kraft und war prinzipiell auf unbestimmte Dauer abgeschlossen. Mit dem Ende gegenseitiger Inspektionen in der Ära Putin galt er am 31. Mai 2001 als vollständig umgesetzt. 

Bereits drei Jahre später, im September 2004, äußerte der damalige russische Verteidigungsminister Sergej Iwanow gegenüber amerikanischen Journalisten, Rußland habe die Absicht, den INF-Vertrag nicht weiterzuführen, dieser sei überholt (The Defense Monitor, Volume XXXIII, Nr. 5).

INF-Vertrag war Vorbote des Systemkollapses im Osten

Das Risiko, daß die neuen Spannungen zwischen Rußland und dem Westen die nukleare Rüstungsspirale wieder in Gang setzen, existiert. Die Europäer und dabei allen voran die Deutschen verkennen in ihrem Lamento, daß der INF-Vertrag für die Amerikaner von Anfang an eine geringere Relevanz hatte als für sie, die in Reichweite der betroffenen Waffensysteme lagen und lägen. Für die Sicherheit der USA hatten die Pershing-II-Raketen und die Marschflugkörper, die es ab 1988 im Gleichschritt mit den sowjetischen SS-20-Systemen wieder abzurüsten galt, keine substantielle Bedeutung. Man hatte sie sowieso nur auf Drängen der Nato-Partner in Westeuropa stationiert, um, wie nicht zuletzt der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt meinte, eine strategische Lücke zu schließen.

In der Logik des Kalten Krieges drohte die ab 1976 einsetzende Indienststellung der SS-20 in den Raketentruppen der Sowjetunion tatsächlich das Gleichgewicht des Schreckens aus den Fugen zu bringen. Die wenigen Jahre, in denen das Atlantische Bündnis der SS-20 noch nichts entgegenzusetzen hatte, waren das einzige Zeitfenster, in dem die Sowjet­union und ihre Satellitenstaaten einen großen Krieg mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg hätten wagen können. Mit der Umsetzung des einen Teils des Nato-Doppelbeschlusses von 1979, der Gegenstationierung von US-Mittelstreckenraketen, war diese Chance dahin, so daß die Kreml-Führung sich auch gleich auf den zweiten Teil einlassen konnte, Verhandlungen über einen vollständigen Abbau der landgestützten Systeme kurzer und mittlerer Reichweite. Insofern war der INF-Vertrag als Eingeständnis, den Ost-West-Antagonismus auch militärisch nicht für sich entscheiden zu können, tatsächlich ein Vorbote des Systemkollapses der Jahre 1989 bis 1991.

Die sicherheitspolitische Konstellation, die zum INF-Vertrag führte, ist Geschichte. In den kommenden sechs Monaten werden sich in erster Linie europäische Diplomaten abmühen, ihre Gesprächspartner in Moskau und Washington eines Besseren zu belehren. Sie treibt die Sorge um, daß die militärischen Muskelspiele, in denen Rußland und die Nato sich seit 2014 wechselseitig ihre Entschlossenheit signalisieren, plötzlich auch eine nukleare Komponente erhalten. Es ist bereits schwer genug, die Bürger der europäischen Staaten dauerhaft für eine Wiederaufrüstung ihrer Streitkräfte zu begeistern. Mit einer neuen, zwangsläufig von Ängsten gespeisten Debatte über Nuklearwaffen und die mit ihnen möglichen Kriegsszenarien wollen sich die Regierungen nicht zusätzlich beschweren.

Alle Nuklearmächte haben ihre Arsenale modernisiert

Daher hängt die deutsche Politik auch die Frage niedrig, wann die Luftwaffe endlich ihr in die Jahre gekommenes Kampfflugzeug Tornado durch ein neues Modell ersetzen kann. Gesucht wird ein Nachfolger, der nicht zuletzt die „nukleare Teilhabe“ der Bundesrepublik sicherstellt, also die Bereitstellung deutscher Flugzeuge, die imstande sind, amerikanische Atombomben ins Ziel zu bringen.

Das Ende des INF-Vertrages läutet jedoch keine Renaissance der Nuklear­waffen ein, da sich deren hoher Stellenwert für die Verteidigungsplanung der Nato im Kern auch nach dem Ende des Kalten Krieges gar nicht gewandelt hat. Die atomare Abschreckung blieb erhalten, folglich mußte es auch niemandem große Kopfschmerzen bereiten, daß die konventionellen Fähigkeiten erodierten und die Streitkräfte auf Einsätze außerhalb des Bündnisgebietes ausgerichtet wurden.

Zudem untersagte der INF-Vertrag nur landgestützte Systeme mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern. Nuklearwaffen, die von Schiffen oder Flugzeugen abgeschossen würden, sind durch ihn nicht abgedeckt. Daher blieben auch die Atompotentiale der Briten und Franzosen, die allesamt see- oder luftgestützt waren und sind, immer ausgeklammert. Alle Nuklearmächte, und dies sind neben den USA, Rußland, Frankreich und Großbritannien eben auch China, Indien, Pakistan sowie Nordkorea und (ohne dies offiziell einzugestehen) Israel, haben, soweit bekannt, in den Jahrzehnten nach dem Kalten Krieg fleißig weiter in die Modernisierung ihrer Arsenale und hier vor allem der Trägersysteme investiert.

Zudem stehen heute technische Lösungen zur Abwehr von Raketen jedweder Reichweite zur Verfügung, an die 1988 noch nicht zu denken war. Auch Deutschland hat sich hier an Entwicklungen maßgeblich beteiligt und plant beispielsweise die Einführung eines landbasierten taktischen Luftverteidigungssystems, das auch in der Lage wäre, einer Bedrohung durch russische Mittelstreckenwaffen entgegenzutreten. Seegestützt sollen die Fregatten der Klasse 124 mit einem neuen Radar in die Lage versetzt werden, in der Abwehr ballistischer Raketen im Nato-Verbund Aufgaben zu übernehmen.

Wie problematisch der per se nur zwei der neun Atommächte bindende INF-Vertrag geworden ist, zeigt ausgerechnet der Streitpunkt, der die USA zum Ultimatum bewegte: die angenommene Reichweite des russischen Marschflugkörpers 9M729, die gegen das Abkommen verstößt. Die neue russische „Avantgarde“-Rakete, die Ende 2018 erfolgreich getestet wurde, vermag Ziele in 6.000 Kilometer Entfernung mit zehnfacher Schallgeschwindigkeit anzusteuern. Sie soll dieses Jahr in den Streitkräften eingeführt werden und kann somit auch sämtliche europäische Hauptstädte bedrohen. Doch den Vertrag verletzt sie nicht.

Dies ist nur eines von vielen Indizien, daß der INF-Vertrag ein Anachronismus geworden ist, dem man nicht nachtrauern muß. Technologisch und sicherheitspolitisch ist die Zeit über ihn hinweggegangen. Für Europa heißt dies nicht, daß die erneute Stationierung von US-Mittelstreckensystemen, die zudem auch erst einmal entwickelt werden müßten, augenblicklich auf die Tagesordnung gerät. Es ist auch schwer vorstellbar, daß Deutschland so wie zu Beginn der achtziger Jahre dazu noch einmal bereit wäre.

Schon ein paar Kilometer weiter östlich von Berlin sieht die Lage indessen ganz anders aus. Polen wünscht sich eine feste US-Militärbasis im Land.





Der Weg zum INF-Vertrag

1977

Die Sowjetunion beginnt in ihren Satellitenstaaten mit der Stationierung von atomaren SS-20-Raketen. Sie sind auf Ziele in Westeuropa gerichtet.

1979

Der Westen antwortet auf die SS-20-Stationierung mit dem Nato-Doppelbeschluß: Rüstungskontroll-Verhandlungen zum Abbau von INF-Raketen, bei Scheitern Nachrüstung von Mittelstreckenraketen.

1981

Die USA schlagen eine „Null-Lösung“ vor: Stopp der US-Pläne für die Aufstellung von Pershing-II-Raketen bei Abbau der sowjetischen Mittelstreckenraketen, darunter der SS-20.

1982

2. Runde der Abrüstungsverhandlungen in Genf. Die UdSSR will britische und französische Waffen auf das US-Arsenal anrechnen und eigene Raketen nicht vernichten, sondern hinter den Ural verlegen. Im Gegenzug sollte die Nato auf Nachrüstungen verzichten.

1983

Scheitern der INF-Verhandlungen. Bonn stimmt für die Stationierung von Pershing II in der Bundesrepublik.

1985

Wiederaufnahme der Verhandlungen. Gorbatschow schlägt ein Raketen-Moratorium vor.

1986

Januar: Gorbatschow kündigt Abrüstungsinitiative für Europa an. Bis 2000 sollen alle INF-Raketen beseitigt werden. Februar: Reagan unterbreitet eine veränderte Null-Lösung:  Bis 1990 sollen alle Pershing II und SS-20 verschwinden. Oktober: Beim Gipfel in Reykjavik einigen sich Reagan und Gorbatschow, die Zahl der INF-Raketen bei 100 einzufrieren.

1987

Juli: Sowjetische Signale der Zustimmung zur Beseitigung aller INF-Raketen in Europa und Asien. 8. Dezember: Beim Gipfeltreffen in Wa­shington unterzeichnen Reagan und Gorbatschow den INF-Vertrag: Besitz, Produktion und Tests atomarer Mittelstreckenraketen werden verboten.

1988

1. Juli: Der Vertrag tritt in Kraft.

1990

Sechs Tage vor der Wiedervereinigung ziehen die Amerikaner die letzten Pershing II aus Westdeutschland ab.

1994

Die USA unterzeichnen mit den GUS-Staaten Rußland, Belarus, Ukraine und Kasachstan ein Forsetzungsabkommen zum INF-Vertrag.