© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/19 / 08. Februar 2019

Ein Medikament, das aus der Hölle kommt
Arzneientwicklung: Der Kauf des Biotechkonzerns Celgene durch Bristol-Myers Squibb ist die bislang größte Übernahme in der Geschichte der Pharmabranche
Jörg Schierholz

Der US-Pharmariese Bristol-Myers Squibb (BMS) will spätestens im dritten Quartal den Biotechkonzern Celgene für 74 Milliarden Dollar übernehmen. Bei bislang 22,6 Milliarden Dollar Jahresumsatz würde BMS so zur Nummer zwei im Onkologiegeschäft hinter Marktführer Roche aufrücken. Im Dezember hatte der japanische Konzern Takeda für 62 Milliarden Dollar den irischen Arzneimittelhersteller Shire geschluckt und so zu den führenden angelsächsischen Giganten aufgeschlossen.

Bei den meisten Übernahmen stehen Krebsmedikamente klar im Vordergrund, dem wachstumsstärksten Segment im Pharmamarkt mit 40 Prozent Anteil an den Forschungsausgaben der globalen Arzneimittelentwicklung. Ein Grund für die Celgene-Übernahme ist die Befürchtung, im Bereich Krebs­immuntherapie die Führung an den US-Konkurrenten Merck zu verlieren, dessen Medikament Keytruda in mehreren Studien besser abschnitt als das BMS-Produkt Opdivo. Celgene hatte zudem mit seinem Multiple-Sklerose-Mittel Ozanimod wenig Glück; die 1986 gegründete Firma gehört aber zu den erfolgreichsten Vertretern der Biotechindustrie. Ausgerechnet das auch als Contergan bekannte Thalidomid war der Ausgangspunkt für den Erfolg von Celgene. Das Nachfolgeprodukt Revlimid, ein Derivat von Thalidomid, ist mit mehr als neun Milliarden Dollar Umsatz die „Cash Cow“ für den in New Jersey ansässigen Konzern.

Allerdings droht in den nächsten Jahren die Konkurrenz von Generika-Herstellern. Das Nachfolgeprodukt Pomalidomid und ein neues Rheumamittel leiten sich auch von der Contergan-Molekülstruktur ab. Damit legt das unselige Contergan die Grundlage für eine neue Wirkstoffklasse immunmodulierender Substanzen (IMIDs), die bei einer Reihe von Erkrankungen mit Störungen des Immunsystems wie Krebs und Rheuma eingesetzt werden können. Contergan hat allerdings eine tragische Geschichte: 1957 vom Aachener Unternehmen Grünenthal auf den Markt gebracht und als rezeptfreies Beruhigungs- und Schlafmittel beworben, ergaben firmeninterne Prüfungen an Mäusen, Ratten, Meerschweinchen, Kaninchen, Katzen und Hunden kaum gravierende Nebenwirkungen. Thalidomid wurde somit als „untoxisch“ eingestuft und als Mittel für morgendliche Schwangerschaftsübelkeit vermarktet.

Neue Anwendungen von Contergan?

Ende der fünfziger Jahre kam es aber zu einer zunächst unerklärlichen Häufung von Mißbildungen Neugeborener. In der Öffentlichkeit und beim Bundesgesundheitsministerium führte man das auf eine mögliche Schädigung durch Kernenergie zurück. Erst später zeigte sich bei einer bestimmten Kaninchenrasse eine fruchtschädigende Wirkung; die Rücknahme von Contergan durch Grünenthal kam aber 1961 viel zu spät: Bis zu 10.000 Kinder weltweit hatten Mißbildungen an den Extremitäten.

Contergan war aber nicht tot. 1964 fand der israelische Hautarzt Jacob Sheskin heraus, daß sich Leprageschwüre zurückbildeten, und die Substanz wurde vor allem in Südamerika angewandt. 1994 fanden Forscher am Children’s Hospital in Boston heraus, daß der Wirkmechanismus, der Arme und Beine der Contergan-Geschädigten in der frühen Schwangerschaft am Wachsen hinderte, das Wachstum von Blutgefäßen reduziert, mit denen ein bösartiger Tumor sich ernährt. In fast ganz Europa erhielten dann Tausende Blutkrebspatienten Thalidomid von Grünenthal.

Als die Vorräte zur Neige gingen, wurde bekannt, daß die Celgene-Tochter Pharmion bei der EU-Arzneimittelbehörde einen Zulassungsantrag für Thalidomid zur Behandlung des multiplen Myeloms gestellt hatte. Die Pille, die einmal sechs Dollar gekostet hatte, wurde über die Jahre auf bis zu 600 Dollar verteuert, eine für Celgene durchaus erfreulich profitable Marketingstrategie. Inzwischen untersucht die US-Gesundheitsbehörde FDA diese – nicht nur in Amerika inzwischen gängige – Verteuerungsstrategie.

Ob sich die Megaübernahme für BMS auszahlt, ist ungewiß. Der Börsenkurs brach nach dem 3. Januar zeitweise um 15 Prozent ein. Die alten Patente des Celgene-Milliardensellers Revlimid laufen ab 2022 aus, und die Generika-Industrie versucht mit Heerscharen von hochbezahlten Patentanwälten diese Schutzrechte frühzeitig zu eliminieren. Die von Celgene zugekaufte Technologie zu gentechnisch veränderten weißen Blutkörperchen, die Krebszellen abtöten können, ist hochinnovativ, teuer und steckt noch in den Kinderschuhen. Vielleicht gibt es aber weitere neue Anwendungen des Contergans – eines Medikaments, das aus der Hölle kommend vielen Patienten inzwischen Lebensjahre schenken konnte.