© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/19 / 08. Februar 2019

Der Traum vom autonomen Nordsyrien
Das Projekt „Rojava“: Die syrischen Kurden im Labyrinth internationaler Machtkämpfe auf der Suche nach Staatlichkeit
Ferhad Seyder

Die „Internationalistische Kommune“ feierte die globalen Aktionstage „#Rise Up4Rojava“ am 27. und 28. Januar zur Verteidigung der Revolution von Rojava als „großen Erfolg“. In über 20 Ländern und mehr als 55 Städten seien Tausende Menschen gegen das „Erdogan-Regime“ auf die Straßen gegangen. Im Fokus, so die der PKK-nahestehende Nachrichtenagentur Firatnews, habe auch dieses Mal die Kritik an der Unterstützung westlicher Staaten und Unternehmen für das „faschistische Erdogan-Regime in der Türkei“ gestanden. Erst vor einem Jahr habe die Türkei mit der militärischen Unterstützung westlicher Staaten wie England, Italien und Deutschland die Kantonshauptstadt Afrin besetzt. 

Auflösung des Nationalstaats steht im Vordergrund 

Auch die Demokratische Union Syriens (Partiya Yekîtiya Demokrat; PYD) verkauft ihre im März 2016 ausgerufene „Autonome Föderation Nordsyrien“ (Rojava-Projekt), die sich über die Kantone Afrin, Kobanî und Hesîçe erstreckt, als Erfolgsgeschichte. Tatsächlich gelang es den Volksverteidigungseinheiten (YPG) und den Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) der mit der PKK verbundenen Partei, die Dschihadisten des Islamischen Staates (IS) zurückzuschlagen. Der Sieg in der Schlacht von Kobanî (September 2014 bis Januar 2015) gegen den IS wird von allen Kurden als Ausdruck des nationalen Willens, sich gegen eine fremde Kultur zu erwehren, gefeiert. 

Nach der Eroberung der zweitgrößten irakischen Metropole Mosul und der Ausrufung des Kalifats (Juni 2014) hatten die USA und der Westen die kurdischen YPG-Einheiten in die Internationale Koalition gegen den Islamischen Staat integriert. Es waren dann auch YPG-Einheiten, die die Hauptstadt des IS ar-Raqqa eroberten und die Dschihadisten Richtung syrisch-irakische Wüste (Badiya) trieben (Mai bis Oktober 2017). 

Zur Absicherung ihres Projektes Rojava riefen PYD und ihre Miliz YPG im Oktober 2015 die Organisation der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) ins Leben. Mit kleinen Einheiten wie dem assyrisch-aramäischen Militärrat, der sunnitisch-arabischen Armee der Revolutionäre und der kurdisch-turkmenischen Kata’ib Schams asch-Schimal.

Diese Umbenennung, es wird gemunkelt, daß die USA in Rücksicht auf die antikurdische Haltung der Türkei die Umbenennung empfahlen, war ein wichtiger PR-Schritt, der untermauern sollte, daß die PYD und YPG und andere Organisationen, die nach 2011 im Kurdensiedlungsgebiet entstanden waren, ethnisch neutral handelten. Man strebe eine basisdemokratische Ordnung und keinen kurdischen Sonderweg an, heißt es.

Das Projekt soll die Ideen ihres „großen Denkers“ Abdullah Öcalan in der Realität umsetzen. Der auf der türkischen Marmarameer-Insel Imrali einsitzende 70jährige hat sich nach seiner Verhaftung 2008 systematisch peu à peu vom kurdischen Nationalismus distanziert. Er strebt eine anationale, multiethnische, religionsfreie, feministische und ökologische Ordnung an. 

Das Ziel dieser Konzeption, die er offensichtlich von dem amerikanischen 2006 verstorbenen Anarchisten Murray Boockchin entliehen hatte, ist die Umstrukturierung der realexistierenden Nationalstaaten der Region zu basisdemokratischen dezentralen Föderationen und Kantonen. 

Ankaras Hilfstruppen sorgen in Afrin für Chaos

Es erübrigt sich zu erwähnen, daß diese „postnationalistische“ Vorstellung über die Kräfte der Kurden hinausgeht und daß in der Region des Vorderen Orients eher vormoderne Vorbilder zur Debatte stehen; etwa das Kalifat und Sultanat. Die PKK und PYD wollen einen Sprung in die Postmoderne machen, ohne die objektiven Bedingungen in Betracht zu ziehen. Ganz gleich, was man von den Utopien Öcalans hält, Tatsache ist, daß in der Türkei und in Syrien sowie in der europäischen Diaspora Tausende von kurdischen Menschen für ihren „geliebten Führer“ und seine Ideen kämpfen wollen.

Wider besseres Wissen bleibt die Türkei bei ihrer These, daß die PKK und die „öcalanistische“ PYD und YPG sowie die multiethnische SDF separatistisch und terroristisch seien. In dieser Hinsicht differieren die Positionen Ankaras und die der US-Präsidenten Barack Obama und Donald Trump. Vor allem der amerikanische IS-Sonderbotschafter Brett H. McGurk machte immer wieder deutlich, daß die USA die SDF- und YPG-Einheiten nicht als Teil der PKK betrachten.

Vor diesem Hintergrund bleibt festzuhalten, daß weder SDF noch YPG seit 2011 einen einzigen Schuß Richtung türkische Grenze abgefeuert haben. Daher erscheint die Begründung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, daß er den Kanton Afrin im Frühjahr 2018 aus Gründen der Selbstverteidigung besetzen ließ, unglaubwürdig. Denn Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen legitimiert die Selbstverteidigung nur in einem Fall: wenn ein Land Adressat einer Aggression geworden ist. Ankara konnte und kann dies nicht beweisen. Allein der Umstand, daß sich PYD und YPG den Gedanken Öcalans verpflichtet fühlen, kann nicht als Beweis der Aggression gegen die Türkei angeführt werden. 

Dagegen führte Erdogan die friedliche und wirtschaftlich weitgehend intakte Afrin-Region nach seinem zynischen Kriegszug „Olivenzweig“ ins Chaos. 

Ankaras Hilfstruppen, bestehend aus Radikalislamisten und arabischen Nationalisten, errichteten ein Schreckensregime. Es ist zu befürchten, daß falls die türkische Armee und die  Dschihadisten den Rest der kurdischen Region besetzen, es ihnen ähnlich geht wie Afrin. 

In zunehmendem Maße bringt die Trump-Regierung die PYD-Führung in Schwierigkeiten. Schien sie doch zunächst Obamas SDF-Politik fortzusetzen, die darin bestand, die SDF mit Waffen und Ausrüstung zu unterstützen. Militärstrategisches Ziel war die Dezimierung und die Vertreibung des Iran und seiner Verbündeten aus Syrien. Interessant dabei: Allem Anschein nach erhielten SDF und PYD/YPG keinerlei politische Zusagen. Denn das Projekt einer kommunalistischen Ordnung und die Überwindung des Nationalstaats in Nord-Ost-Syrien wurde von den USA einfach ignoriert. Die USA gingen wie im Fall der türkischen Besetzung des Kantons Afrin nördlich von Aleppo indifferent vor. Sie bezog keine Stellung gegen die türkische Invasion, da Afrin nicht zu den Gebieten gehört, in denen die USA in Ost-Nord-Syrien aktiv sind. Es blieb der PYD/YPG nichts anderes übrig, als die amerikanische Entscheidung hinzunehmen.

 Im Dezember 2018 versetzte Trump seinen Verbündeten einen weiteren Schlag, als er angekündigte, die amerikanischen Truppen aus der Region abziehen zu wollen. Kurz darauf – sowohl der Sonderbeauftragte für die Anti-IS-Koalition McGurk als auch US-Verteidigungsminister James Mattis hatten aufgrund Trumps Ankündigung ihren Rücktritt erklärt – milderte Trump seine Entscheidung und sprach nur noch von einem langsamen Abzug, der sich über Monate hinziehen könne. Sicherheitsberater John R. Bolton sekundierte und versprach im Fall eines Abzuges, die Kurden auch weiterhin schützen zu wollen. 

Im Mittelpunkt dabei: eine Pufferzone entlang der türkisch-syrischen Grenze. Doch auch hier scheiden sich die Geister. Ankara liebäugelt mit einer Pufferzone, um den Status quo im Kanton Afrin zu festigen und ihren Einfluß im Kurdengebiet weiter auszubauen, die Assad-Regierung lehnt dies ab. 

Dagegen favorisiert Washington, einem Bericht des Wall Street Journal zufolge, die Schaffung einer von den Westmächten kontrollierten entmilitarisierten Sicherheitszone entlang der syrisch-türkischen Grenze, die als Puffer zwischen türkischen und kurdischen Truppen dienen soll.

Gegen Assads „Regime“ und  Ankaras „Völkermordpolitik“

Derweil fand am vergangenen Freitag in der nordsyrischen Region Hesîçe unter dem Motto „Mit Willenskraft und Organisierung Afrin befreien und ein dezentrales und demokratisches Syrien aufbauen“ der 3. Kongreß der PYD statt. Die Eröffnungsrede hielt nach Angaben der Firatnews der stellvertretende PYD-Vorsitzende, Sahoz Hesen. Er kritisierte sowohl das syrische Regime, das in Verbindung mit Rußland und Iran immer noch „rücksichtslos“ versuche, den Status quo zu erhalten, als auch die Türkei, die „nach wie vor mit Massakern und allen Arten von Angriffen das Osmanische Reich zu reinstallieren versuche“. Wie vor hundert Jahren die Armenier vertrieben und ermordet wurden, dauere diese „Völkermordpolitik heute gegen die Kurden an“.

Die dritte Kraft, so Hesen weiter,  sei  der „Weg der demokratischen Lösung“. „Alle Völker in Syrien wollten in Frieden zusammenleben und akzeptierten keine auswärtigen Kräfte mehr. Mit Mitteln des demokratischen Widerstandes würden sich die Menschen bereit machen, gegen die Besatzung zu kämpfen.“ 






Prof. Dr. Ferhad Seyder ist Leiter der Mustafa-Barzani-Arbeitsstelle für Kurdische Studien an der Universität Erfurt





Kurdischer Nationalrat

In Opposition zur Demokratischen Union Syriens (PYD) und den Volksverteidigungseinheiten (YPG) arbeitet der Kurdische Nationalrat (KNC) in Syrien. In einem Interview mit der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu betonte KNC-Vertreter Nuri Brimo, daß weder die „Terrororganisation PKK noch deren syrischer Ableger PYD/YPG Vertreter der kurdischen Bevölkerung in Syrien seien, noch das Recht hätten, in deren Namen zu sprechen oder aufzutreten“. Auch seien diese „miteinander verflochtenen Organisationen nicht berechtigt, als militärische Vertretung syrischer Kurden zu agieren“.  Der KNC, mit Unterstützung des damaligen Präsidenten der Autonomen Region Kurdistans, Masud Barzani (Demokratische Partei Kurdistans, PDK), im Oktober 2011 gegründet, ist ein politischer Faktor. Bei freien Wahlen könnte er bis zu 50 Prozent der Stimmen gewinnen. Manko: Er hat keine militärische Schlagkraft. Seine elf Gründungsmitglieder waren politische Gruppierungen. Die in Irakisch- Kurdistan stationierten  „Peschmerga Rojava“ (cirka 5.000 Kämpfer) sind kein bewaffneter Arm des Nationalrates. Denn die PDK entscheidet allein, ob sie eingesetzt werden oder nicht. Gerade in jüngster Zeit kam es immer wieder  zu Unstimmigkeiten zwischen der  PDK und der PYD über den Einsatz von Peschmerga-Kämpfern.