© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/19 / 08. Februar 2019

Ein Dorf jenseits der Oder
Literatur: Fritz Bartelts Roman „Neumark“ erzählt vom Schicksal einer Familie im alten östlichen Brandenburg
Johannes Geissler

Familiengeschichte ist Zeitgeschichte, im besten Fall. Darauf bauten in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer wieder deutschsprachige Autoren mit umfangreichen Romanen. Und das zum Teil sehr erfolgreich, wie etwa Walter Kempowski mit „Tadellöser & Wolff“ oder Uwe Tellkamp mit „Der Turm“. Dabei erlaubt die Familiengeschichte, ob rein fiktiv oder an reale Vorbilder angelehnt, oftmals einen höchst differenzierten und nuancenreichen Blick auf die Zeitläufte – besonders hinsichtlich der beiden Totalitarismen auf deutschem Boden im 20. Jahrhundert.

Das Aufkommen und die Herrschaft des Nationalsozialismus spielen auch in Fritz Bartelts Roman „Neumark“ eine zentrale Rolle. Erzählt wird die Geschichte der Familie Bütow, die 1926 aus der Schorfheide in ein neumärkisches Dorf zieht, in die Nähe von Landsberg an der Warthe. Die ersten Jahre sind geprägt von den Herausforderungen beim Einleben der Eheleute Maximilian und Margarete Bütow in die Dorfgemeinschaft sowie von den wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Zeit: Maximilian Bütow, als Ehemann und Vater die zentrale Figur des Romans, bezieht als Weltkriegsveteran eine kleine Versorgungsrente, die er mit dem Schreiben von Zeitungsartikeln aufbessert. Aufgrund alter Armeekontakte erhält er beim Landsberger Generalanzeiger eine Stelle als freier Korrespondent.

Durch diese Tätigkeit des Protagonisten erfährt der Leser viel über die Situation und die Veränderungen im östlichsten Teil der damaligen Provinz Brandenburg. Denn Bartelt setzt durch eine geschickte Montagetechnik vielfach zeitgenössische Zeitungsartikel sowie Auszüge aus Reden und Aufrufen in den Verlauf der Romanhandlung und das Erleben der einzelnen Figuren ein.

Es ist die Zeit der politischen Auseinandersetzung auf der Straße, der Aufmärsche, der Reden, der Not, kurz: des endgültigen Scheiterns der Weimarer Republik. Bei den Wahlen kippen die Mehrheitsverhältnisse im Dorf und in der gesamten Provinz nach und nach: Die NSDAP legt an Stimmen zu, immer mehr Männer treten in die SA ein. Der Siegeszug der Partei und ihrer Gliederungen vollzieht sich hier, im grenznahen Osten Brandenburgs, mit besonderer Dynamik. Ein tragischer Selbstmörder wird etwa zum Märtyrer, zu einem neuen Horst Wessel gemacht, dessen Begräbnis schließlich in einer Farce endet. Und der Zeitungskorrespondent Bütow ist natürlich am Puls der Zeit; seine Tätigkeit führt ihn auch nach Berlin während des Reichstagsbrandes oder nach München zu einer Ausstellungseröffnung im Beisein Goebbels’.

Von Ambivalenz ist das Verhältnis der beiden Eheleute zu den neuen Machthabern und zum Umbau von Staat und Gesellschaft geprägt: Während Margarete anfangs den neuen Zeiten viel Positives abgewinnen kann und die Kinder bei deren Wünschen unterstützt, der Hitlerjugend beziehungsweise dem Jungvolk beizutreten, hat Maximilian Zweifel.

Vorbehalte gegen die Ideologisierung 

Als preußischer Patriot und Weltkriegsteilnehmer wünscht er sich sehnlichst Größe und Zukunft für Deutschland zurück. Seine ehemaligen Kameraden begrüßen den Sieg des Nationalsozialismus, die SA versucht Maximilian, den ehemaligen Kavalleristen, für die Reiterstaffel zu gewinnen. Doch: „Maximilian war zwar stolz auf seine Militärzeit, aber er mochte das von den braunen Marschkolonnen okkupierte Militärische nicht. Vielleicht war er stolz darauf, sich so lange ferngehalten zu haben? Er haßte Reih und Glied, die jetzt wieder vor ihm auftauchten. Und er wußte doch, daß die Linie gehalten werden mußte.“

Maximilians Vorbehalte gegen die Ideologisierung des Alltags bleiben bestehen. Hinzu kommen die Beschuldigungen und Schikanen, die sich gegen die behaupteten Feinde des neuen Systems richten. Schließlich gerät die Familie Bütow wie viele andere in den Mahlstrom der Geschichte in Form von Krieg, Tod und Vertreibung. Die Romanhandlung endet im Mai 1945.

Fritz Bartelt, Jahrgang 1928 und damit zur Erlebnisgeneration gehörend, wuchs im Warthebruch, einem Teil der Neumark, auf und arbeitete unter anderem als Kulturreferent in Nordrhein-Westfalen. Nach vor allem kunst- und kulturgeschichtlichen Werken ist „Neumark“ sein erster Roman. Mit ihm gelingt es Bartelt, einen Teil des alten deutschen Ostens lebendig zu machen, der im Gegensatz zu Ostpreußen oder Schlesien als Verlust- und Sehnsuchtsort im kollektiven Gedächtnis und in der Literatur eine untergeordnete Rolle spielt. Das Verweben und Ineinanderwirken von Erzählhandlung und historischen Dokumenten gelingt ihm dabei besonders gut und macht den Roman zu einem mehrstimmigen Werk über Familie, Heimat und Verlust.

Fritz Bartelt: Neumark. Roman über ein anderes Leben. Die Mark Brandenburg – Verlag für Regional- und Zeitgeschichte, Berlin 2019, broschiert, 450 Seiten, 18 Euro