© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/19 / 15. Februar 2019

Washingtoner Elfenbeinturm
Wirtschaftstheorie: Olivier Blanchard will Schulden mit Wachstum finanzieren
Thomas Kirchner

Mit der Prozentrechnung haben auch Erwachsene Probleme. Deshalb eignen sich Prozente für Milchmädchenrechnungen – oder zur Verschleierung unangenehmer Fakten. Neuester Nebelkerzenwerfer ist Olivier Blanchard, einst Chefökonom des Währungsfonds IWF und seit 2015 Senior Fellow am Washingtoner Peterson Institute (PIIE). Seine Idee: Wenn Zinsen niedriger sind als das Wachstum, dann können Staatsschulden unendlich finanziert werden. Bei Zinsen von drei Prozent und Wachstum von vier bis fünf Prozent steige die Wirtschaftsleistung schneller als die Zinskosten.

In vier der letzten sieben Jahrzehnte waren die zehnjährigen Zinsen in den USA niedriger als das Wachstum. In Europa liegen die zehnjährigen Zinsen bei 1,4 Prozent, das nominale Wachstum bei 3,6 Prozent – bestehend aus zwei Prozent Inflation und 1,6 Prozent Realwachstum. Dementsprechend argumentiert der Neokenyesianer, könne man die Schulden weiterlaufen lassen, sie würden im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung mit der Zeit immer kleiner. Hat der französische Professor die magische Formel zur Rettung der überschuldeten Wohlfahrtsstaaten entdeckt?

Doch die Rechnung geht nur auf, solange sich die Schulden auf dem Niveau befinden, wie es derzeit in den meisten Industrieländern herrscht. Für hoch- und niedrigverschuldete Länder hingegen funktioniert es nicht. In Griechenland stehen Schulden von 317 Milliarden Euro einer Wirtschaftsleistung von 180 Milliarden gegenüber. Im Januar versuchte Griechenland für 3,50 Prozent Zinsen eine Anleihe zu plazieren. Bei diesem Zinssatz wären jährlich etwa 11 Milliarden fällig. Nimmt man an, das nominale Wachstum läge mit vier Prozent etwas höher als die Zinsen, dann stiege die Wirtschaftsleistung um nur 7,2 Milliarden Euro. Die Bilanz würde sich also aufgrund der Zinslast um rund vier Milliarden verschlechtern. Griechenland bleibt trotz höheren Wachstums als Zinsen in einer Schuldenspirale gefangen.

Formel für anhaltende Haushaltsdefizite?

Am anderen Ende der Schuldenskala ist es umgekehrt: Luxemburg hat Schulden von 12,7 Milliarden Euro. Bei einer Wirtschaftsleistung von 55,4 Milliarden würden bei einem Wachstum von vier Prozent jährlich 2,2 Milliarden Euro mehr erwirtschaftet. Damit könnte Luxemburg Zinsen von mehr als 17 Prozent verkraften, bevor es in einer Schuldenspirale gefangen wäre. Zinsen von weit mehr als der Wachstumsrate wären also problemlos zu meistern.

Entscheidend ist auch: Wachstum bezieht sich immer auf 100 Prozent der Wirtschaftsleistung des Vorjahres, aber Zinsen beziehen sich auf die Schulden, die mehr oder weniger als 100 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmachen können. Mathematisch versiert ist der PIIE-Professor zweifellos, so daß man dem 70jährigen keinen versehentlichen Rechenfehler unterstellen kann. Ein mögliches Motiv wird deutlich, wenn man sich an den Vorschlag des IWF von 2013 erinnert, eine einmalige, zehnprozentige Vermögensabgabe einzuführen.

 Dieser Vorschlag in Blanchards Amtszeit als IWF-Chefvolkswirt fand erhebliche Resonanz in Medien und bei Politikern, die sich um ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung sorgen. Blanchards aktuelles Argument bedient die gleiche Klientel, die ständig steigende Staatsschulden für den Normalzustand hält und neue Argumente für noch mehr Schuldenwirtschaft sucht.

Blanchard wiederholt die gleichen Argumente, die schon der Nobelpreisträger Paul Krugman und andere Neokeynsianer auftischen: Zinsen sind so niedrig, daß der Staat jetzt Schulden zur Finanzierung der Infrastruktur aufnehmen sollte. Die ursprüngliche Idee von John Maynard Keynes, in guten Zeiten Schulden nicht nur abzubauen, sondern sogar Reserven anzulegen, wird heutzutage absurderweise von Kritikern der keynesianischen Schuldenpolitik vertreten.

Olivier Blanchard gibt in seinen Ausführungen indirekt zu, daß höhere Schulden auch Risiken beinhalten. Bei einigen der Simulationen, durch die er seine Modellen schickte, gingen die Staaten pleite. Aber das ist nicht so wild, sagt der emeritierte Harvard-Professor, das sei eben das Risiko, daß die erste Generation eingeht, wenn sie der nächsten hohe Schulden hinterläßt. Bleibt die Frage: Wenn Schulden von alleine verschwinden, warum steigen sie dann ständig? Daß Staaten permanente Haushaltsdefizite eingehen und so den Schuldenberg stets erhöhen, fehlt in den Modellen. Wie schon bei der IWF-Theorie zur Vermögensabgabe soll Schuldenmachen ein einmaliges Ereignis sein. Offenbar ist das Ganze eher eine akademische Theorie für den Elfenbeinturm, keine Handlungsanleitung für die Politik.

Olivier Blanchards Vortrag über „Public Debt and Low Interest Rates“:  piie.com/