© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/19 / 15. Februar 2019

Plötzlich sind alle betroffen
Schule: In Berlin soll eine Elfjährige Selbstmord begangen haben – wegen Mobbings / Politiker sind erstaunt, dabei gab es Warnhinweise

Martina Meckelein

Ein Kind ist gestorben. Eine Schülerin der Hausotter-Grundschule in Berlin-Reinickendorf. Die Kleine wurde elf Jahre alt. Das Mädchen soll, so vermutet es der Elternrat der Schule, sich selbst das Leben genommen haben. Das mögliche Motiv: Mobbing. Die Staatsanwaltschaft hat ein Todesermittlungsverfahren eingeleitet. Auf den Treppenstufen, die zum Schulgebäude führen, haben Trauernde Kerzen, Blumen und Plüschteddys niedergelegt. Mit den Worten: „Ich bin sehr betroffen vom Tod der Schülerin“, zitiert der Tagesspiegel Berlins Oberbürgermeister Michael Müller (SPD). 

Ein paar Tage später sagt auch Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD) Aufarbeitung durch Sozialpädagogen und Psychologen zu. Der Tod der Schülerin macht betroffen. Sicher wegen des sehr jungen Alters, aber noch viel mehr, weil die Schule als Mobbing-Hotspot bekannt ist – und das seit Jahren. Darüber hinaus steht der Tod des Kindes aber auch für die desolate und gefährliche Situation an Deutschlands Schulen.

Mobbing ist bis heute 

ein Tabuthema  

Laut dem Online-Portal Statista gab es in Deutschland im Schuljahr 2017/2018 rund 8,35 Millionen Schüler an allgemeinbildenden Schulen. Statt aus Pauken besteht ihr Alltag: aus Prügeln, Treten, Lügen und Denunzieren. Übertrieben? Nein! Denn im selben Zeitraum befragte das Bündnis gegen Cybermobbing gemeinsam mit der Telekom 3.000 Schüler, Lehrer und Eltern.

 Die Wissenschaftler wollten wissen, wie viele Schüler Opfer von Cybermobbing sind. Die aus der Umfrage hochgerechnete Zahl: 1,4 Millionen Schüler seien betroffen, davon hatten 280.000 Suizid-Gedanken.

Mobbing an Schulen ist also kein Einzelfall. Doch die Opfer schämen sich – und schweigen. Und das seit Jahrzehnten. „Wir alle haben ihn gekannt. Wer ist schuldig geworden?“ Das fragt der Pastor auf der Beerdigung des Gymnasiasten Claus Wagner in dem ZDF-Sechsteiler „Tod eines Schülers“ von 1980. 

Die Mini-Serie wurde nur zweimal im Fernsehen gezeigt. Die Selbstmord-rate unter männlichen Jugendlichen schnellte nach der Ausstrahlung in die Höhe. Unabhängig davon ist zu konstatieren, daß Mobbing schon vor 40 Jahren gesellschaftspolitisch ein wichtiges, doch bis heute ein Tabuthema zu sein scheint.

Es erfordert mutige Menschen, die darüber berichten. So wie Anna. Sie will Lehrerin werden. 20 Jahre ist sie jung, studiert Philosophie und Biologie im 3. Semester. Bachelor mit Lehramtsoption fürs Gymnasium und die Integrierte Sekundarstufe. Anna ist zierlich. Sie trägt einen schwarzen Rolli, ihre schwarzen langen Haare mit den violetten Strähnen hat sie hochgesteckt. Die bleiche Gesichtsfarbe unterstreicht sie durch einen schwarzen breiten Oberlid-Kajal-Strich. Um den Hals baumeln zwei silberne Anhänger an langen Ketten: ein Drudenfuß und ein Anch-Kreuz. Eine Mischung aus Gothik, Esoterik, einer Prise Koketterie und einer Portion Altklugheit. Aufrecht sitzt sie im Sessel, aufmerksam hört sie den Fragen zu. Schnelle Antworten.

 Wenn sie doziert, dann scheint es so, als ob sie das im Studium Gelernte repetiert. Und dann schaut sie, wie um Beifall zu erheischen, ihr Gegenüber an. So als wolle sie fragen: „Habe ich nicht gut gelernt?“ Anna lernte schon immer gut. „Ich habe viel geleistet“, sagt sie. „Mein Abitur machte ich mit 1,8.“ Dabei ist Anna, den Namen hat sie sich für das Gespräch selbst gegeben, eines von Millionen Opfern in Deutschland. Anna wurde über Jahre hinweg an der Schule gemobbt. 

„Als ich aus dem Kindergarten kam, habe ich mich ganz doll auf die Schule gefreut“, sagt Anna. „Endlich etwas lernen, neue Leute kennenlernen, klar welches Kind freut sich nicht auf die Schule?“ Annas Leben veränderte sich Ende der 4. Anfang der 5. Klasse. Anna fiel in Ungnade. Wortführer waren Klassenkameradinnen. „Die zwei Mädchen waren recht beliebt. Eine war gutes Mittelfeld, die andere schlecht in der Schule. Ich erinnere mich daran, wie einmal auf dem Schulhof in der Pause die Klasse Zweifelderball spielte. Ich fragte, ob ich mitspielen könnte. Die sagten nein. Ich fragte: Warum nicht? Die sagten: Du bist Scheiße. Das kam für mich wie aus dem Nichts.“ 

Rückblickend sagt Anna, daß sie den Eindruck hatte, daß durch Nachfragen alles noch viel schlimmer wurde. Anna wird immer öfter Opfer der Nachstellungen ihrer Klassenkameraden. Heute vermutet sie, daß es nicht nur, aber eben auch an ihrem Äußeren gelegen haben mag. „Bomberjacke, Camouflagehose und die Musik meines Vaters hörend, das war ich. Ich las nicht die Bravo, sondern Bücher über nordische Mythologie. Ich war eben anders.“

Anders sein, das hoffte Anna dann auf dem Gymnasium leben zu können. „Die ersten zwei Jahre waren die totale Befreiung“, sagt sie, bis es dann dort von neuem losging. „Da begannen die Gruppenbildungen. Diesmal war es eine Gruppe von vier Jungen, alles Deutsche. Wir nannten sie die Airmax, nach ihren Adidas-Schuhen die sie trugen.“ Für die Jungs war sie der Nazi. „Ich hab denen versucht zu erklären, daß ein Skinhead etwas anderes war als ein Nazi.“ 

Erfolg war ihr nicht beschieden. Doch dann hat Anna Glück. „Ich rutschte aus dem Fokus der Mobber.“ Warum? „Weil die ein anderes Opfer fanden. Eine Klassenkameradin, deren Eltern kein Geld hatten. Sie war intelligent, diskutierte gern und gut. Aber sie hatte Pickel und war Leistungssportlerin. Das ideale Opfer. 

Dazu kam, daß ihr Vater sie immer zum Sporttraining begleitete und am Zaun stand und begutachtete. Die vier haben sie fast zu Tode gemobbt. Sie begann sich zu ritzen. Dann haben sie sie bloß gestellt: ‘Schau dir den Psycho an.’ Ich habe mich für sie eingesetzt, aber sie gab sich selbst auf. Die ist von zu Hause ausgezogen, begann Drogen zu nehmen, trank Alkohol, war nur noch mit Jungs zusammen. Ich glaube, sie hat das Abitur nicht mehr gemacht.“

„Zunehmende Vielfalt“ der Schüler als Kernproblem 

Physische Gewalt hat Anna während ihrer Schulzeit nicht erfahren. Ganz anders als viele Schüler laut Polizeilicher Kriminalstatistik. Zwar gibt es keine offiziellen Mobbing-Statistiken, die sich auf den Schulbereich beziehen, aber einzelne Länderpolizeien weisen Statistiken zu „Straftaten an Schulen“ wie zum Beispiel in Berlin oder „Kriminalität mit Tatörtlichkeit Schule“ wie in Nordrhein-Westfalen aus. In NRW ist eine Zunahme aller Straftaten im schulischen Bereich um 3,3 Prozent zu verzeichnen (von 26.662 im Jahr 2016 auf 27.541 Taten 2017). Raub und räuberische Erpressung stieg um 27,8 Prozent, Nötigung um 14,3 Prozent. In Berlin wurde unter dem Stichwort bereits im Schuljahr 2015/16 eine Zunahme der Straftaten zum Vorjahr verzeichnet. 

Dieser Trend, so das Innenressort, setzte sich im Jahr 2016/17 um plus vier Prozent fort. Einen deutlichen Anstieg, so die Polizei, gab es im selben Jahr besonders bei der Bedrohung – plus 40,9 Prozent  (von 149 auf 210 Fälle) und bei Körperverletzungsdelikten – plus 11,4 Prozent. Im Schuljahr 2016/17 gelangten der Polizei 54.438 Straftaten zur Kenntnis – wobei die Dunkelziffer weitaus höher anzusetzen ist. Nach Bezirken aufgeschlüsselt liegen die Schulen mit den meisten registrierten Straftaten in Mitte, Marzahn-Hellersdorf und Reinickendorf. Dies ist genau der Stadtteil, in dem die Hausotter-Grundschule liegt.

Im Schulinspektionsbericht der Hausotter-Grundschule hieß es 2013: „Die Hausotter-Grundschule befindet sich momentan in einer problematischen Situation. Die Lehrkräfte fühlen sich von der zunehmenden Vielfalt ihrer Schülerinnen und Schüler überfordert, vom Schulleiter hingegen zuwenig unterstützt. Das soziale Klima an der Schule ist deutlich beeinträchtigt.“ 

Inspektoren fordern personelle Konsequenzen

Drei Jahre später, am 1. Oktober 2016, wird der Bericht einer angekündigten „Nachinspektion“ veröffentlicht: „An der Schule lernen im Schuljahr 2015/2016 rund 440 Schülerinnen und Schüler. Der Anteil an Schülerinnen und Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache hat sich in den letzten fünf Jahren kontinuierlich erhöht, derzeit liegt er bei 71 Prozent. Von der Zuzahlung zu den Lernmitteln sind cirka 57 Prozent der Elternhäuser befreit. In unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich der Lettekiez, welcher als sozialer Brennpunkt gilt.“ 

Von Verhaltensauffälligkeiten der Schüler ist die Rede, und davon, daß Maßnahmen zur Verbesserung des Sozialverhaltens keine gesamtschulische Wirkung zeigten; Schüler die zu „Konfliktlotsen“ ausgebildet werden, würden in der Schülerschaft kaum wahrgenommen. Es gibt verhaltensauffällige Schüler, die einen geordneten Unterricht unmöglich machten. 

Die Inspektoren fordern in ihrem Fazit personelle Konsequenzen. Der Schuldirektor wurde ausgetauscht. Übrigens waren wohl vergangenes Jahr zwei Mobberinnen im Fall der Elfjährigen identifiziert worden, sie sollen die Schule verlassen haben. Geholfen hat es dem Kind nichts. Denn den Opfern wird nicht geglaubt. 

Auch Anna hat das erlebt. „Für die Lehrer war ich die Aggressive, die Schuldige. Schon allein aus dem Grund, weil ich mich verbal wehrte.“ Warum sie Lehrerin werden will? „Ich war Mobbingopfer. Ich erkenne sie deshalb leichter. Ich will ihnen helfen. Mir half damals nur mein Vater, der mir glaubte.“ 






Kriminalitätsschwerpunkt Schule

Straftaten im schulischen Bereich (Anzahl der Fälle in NRW)

Straftat20162017      Zu-/Abnahme%

Straftaten insgesamt 26.662 27.541  879 3,3

Raub, räuberische Erpressung  108  138  30 27,8

Körperverletzung insgesamt 4.017 4.343  326 8,1  

gefährliche und 

schwere Körperverletzung 1.066 1.179  113 10,6  

vorsätzliche einfache 

 Körperverletzung 2.855 3.062  207 7,3

Nötigung, Bedrohung  902 1.031  129 14,3

Diebstahl insgesamt 12.120 11.553- 567- 4,7

Sachbeschädigung 5.030 5.395  365 7,3

Rauschgiftdelikte (BtMG) 1.337 1.527  190 14,2