© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/19 / 15. Februar 2019

Nicht nachhaltige Wirtschaftsmuster
Die Digitalisierung aus der Perspektive linksgrüner Wissenschaftler / Keine Effizienzwunder erwartet
Christoph Keller

Nachdem bei der Bundestagswahl 3,35 Millionen einstige Unionswähler CDU und CSU die Stimme verweigert hatten, wartete der damalige Fraktionschef Volker Kauder mit einer bizarren Erklärung auf: Gewiß hätten gerade Wähler in ländlichen Regionen so ihrem Ärger darüber Luft gemacht, daß sie vom schnellen Internet und der Digitalisierung ausgeschlossen seien. Nachfolger Ralph Brinkhaus bekräftigte jetzt in der FAZ, auch im Wahljahr 2019 wolle die Union nicht mit der AfD in Sachen Masseneinwanderung konkurrieren, sondern sich lieber um die sozialen Auswirkungen der Digitalisierung kümmern.

Auch „Smart Cities“ machen nicht glücklich

Dieses lebhafte Interesse an der „digitalen Revolution“ ist jedoch kein reiner Ablenkungsdiskurs. Im Schlagwort Digitalisierung verdichtet sich vielmehr, was zunehmend den deutschen Alltag bestimmt: Als Motor der „Großen Transformation“ soll der Einzug unzähliger IT-Geräte und Anwendungen in alle Lebens- und Arbeitsbereiche die Energiewende zur Wachstums-, Ressourcen-, Verkehrs- und Konsumwende ausweiten, um für Wirtschaft und Gesellschaft die Weichen für die Fahrt in eine bessere, weil „nachhaltige Welt“ zu stellen. Trotzdem hält sich der Enthusiasmus bei zahlreichen Forschern in engen Grenzen, wie zwei Dutzend Aufsätze zu Chancen und Risiken der Digitalisierung im Schwerpunktheft der linksgrünen Zeitschrift Politische Ökologie (155/18) dokumentieren.

Ganz pessimistisch geben sich zwei Referentinnen vom Berliner Forum Umwelt und Entwicklung. Nelly Grotefendt und Marie-Luise Abshagen sehen in der Digitalisierung „im Kern nur eine Weiterentwicklung bestehender Wirtschaftsmuster“. In der derzeitigen Art der „kommerziell vorangetriebenen Digitalisierung“ gehe es daher nicht darum, durch diverse „Wenden“ eine gerechtere Gesellschaftsordnung und effizientere, die Natur und ihre Ressourcen schonende Weltwirtschaft zu erreichen. Sondern ganz simpel um die Radikalisierung der Globalisierung, den verbesserten Zugriff weniger Software-Konzerne und Industriegiganten auf Märkte, billige Arbeitskräfte, Rohstoffe. 

Auch der Informatiker Rainer Rehak (Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft), der sich mit der städtischen Computerisierung („Smart City“) befaßt, entdeckt viel alten Wein in neuen Schläuchen. Von Nachhaltigkeit und von dem, „was Menschen glücklich macht“, sei in Quayside, einem Smart-City-Projekt der Google-Schwester Sidewalk Labs in Toronto, wenig zu sehen. Zwar sei der Stadtteil bis hin zur intelligenten Mülltonne „durchdigitalisiert“, aber kaum „lebenswert“.

Spannendere Ansätze gebe es in Barcelona, wo die linke Bürgermeisterin Ada Colau i Ballano das Smart-City-Konzept nicht an IT-Giganten delegiere. Deshalb spiele die in Toronto vernachlässigte Daten- und Softwaresouveränität dort eine so wichtige Rolle. Zudem verfolge man die großflächige Beschaffung sozialverträglich produzierter Hardware und „freier Software ohne Einsperrlogik“, um die von Microsoft mit Windows und Office aggressiv betriebene Inkompatibilitätsstrategie aufzubrechen. Davon erhoffe man sich überdies eine Stärkung der katalanischen IT-Industrie.

Ebenfalls in hergebrachten „Wirtschaftsmustern“ verlaufe bisher der zunehmend von digitalen Geräten geprägte Konsum, wie Vivian Frick und Johanna Pohl (Zentrum Technik und Gesellschaft, TU Berlin) herausfanden. Suchmaschinen, Online-Einkäufe, Vergleichs- und Tausch-Plattformen vereinfachen den Konsum. E-Commerce verzeichne jährlich zweistellige Wachstumsraten, zwei Drittel der Deutschen kauften via Internet. Eine Entwicklung, die zu weniger nachhaltigem Konsum geführt habe: Die Entgrenzung der Konsumoptionen gehe mit der Entgrenzung der Konsummenge einher. Dieses Phänomen lasse sich auch bei Dienstleistungen beobachten. Studien zum Carsharing zeigten etwa, wie Angebote von car2go (Daimler) oder DriveNow (BMW) zur Zunahme des Autoverkehrs führten.

„Absolute Senkung des Konsumniveaus“

Wie Facebook den Konsum befeuere, zeige die Werbung für Reiseanbieter: Das massenhafte Versenden von Urlaubsfotos künde vom Fernreise-Bedarf der Facebook-Kunden. Eine ideale Zielgruppe also, bei der sich die Nachfrage durch Werbung weiter steigern lasse. Ambivalentes offenbare auch die digitale Vernetzung im Wohnbereich. Für die bis 2030 prognostizierten „hohen Energiesparpotentiale“ fehle es an wissenschaftlicher Bestätigung. „Smartes“ Gebäudemanagement sei mit enormen ökologischen Anschaffungskosten verbunden. „Smarthomes“ würde bisher nicht um der Nachhaltigkeit willen eingerichtet, sondern um neueste technische Spielereien auszuprobieren. Was den Schluß nahelege, hier würden Konsumausweitungen provoziert. 

Auf diesem Sektor drohe sich mithin zu wiederholen, was sich an der verstärkten Nutzung digitaler Infrastrukturen und dem Ausbau von Speicherkapazitäten in Rechenzentren ablesen lasse: Durch Digitalisierung explodiert der Energieverbrauch. Der Ersatz von CD, DVD und MP3 durch das Streamen von Musik und Filmen sei ein Haupttreiber des global ansteigenden Datenverkehrs. Wäre das Internet ein Land, wäre es nach China und den USA der weltweit drittgrößte Stromverbraucher. Die Digitalisierung des Konsums habe analoge Prozesse ins Digitale verschoben und ihre Nicht-Nachhaltigkeit konserviert.

Das für die „Industrie 4.0“ der digital vernetzten Fertigungssysteme verheißene „Effizienzwunder“ gleiche gegenwärtig ebenfalls einer „Ressourcenschleuder“. Statt Energieeinsparungen werde die Nachrüstung mit Sensorik, Aktoren und Prozessoren die Nachfrage nach den dafür benötigten Metallen wie Lithium und Terbium bald verdoppeln. Die auf Flexibilität und Modularität ausgelegten neuen Fertigungssysteme mit ihrer Datenübertragung per Funktechnik seien zudem „deutlich energieintensiver als klassische Kabelleitungen“, rechnen Potsdamer Wissenschaftler vom Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) vor.

Digitalisierung bringe keineswegs automatisch die alles erlösende Mobilitäts-, Energie- und Konsumwende, stellen Tilman Santarius und Steffen Lange (Institut für ökologische Wirtschaftsforschung, TU Berlin) fest. Sie verlange vielmehr die „absolute Senkung des Konsumniveaus“ im globalen Norden. Die Parole „Postwachstum“ ausgebend, verabschieden die beiden Gegner individueller Autonutzung damit zugleich Tesla & Co. als überflüssigen Luxus, der nur die profitable Liebe zum Auto neu entfachen solle. Auf allen Anwendungsfeldern, so der einhellige Tenor der ökologisch engagierten Wissenschaftler, erweise sich die Digitalisierung deshalb mehr als Fluch denn als Segen, solange sie nach Spielregeln der neoliberal globalisierten Wirtschaft ablaufe.

Themenheft „Smartopia“ des Magazins Politische Ökologie (155/18):  oekom.de/

Smart City Toronto-Quayside:  waterfrontoronto.ca