© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/19 / 15. Februar 2019

Der Flaneur
Schnee in der Großstadt
Paul Leonhard

So etwas: Es schneit mitten im Winter. Als ich das Rollo am Fenster hochziehe, blicke ich auf eine weiße Landschaft. Dicke Schneeflocken schweben hernieder. Eine halbe Stunde später sind wir die ersten, die das Mehrfamilienhaus verlassen, die Schneedecke ist noch unberührt. Wir hinterlassen die ersten Spuren. Fünf Zentimeter tief versinken die Stiefel im Schnee. Die Vorderräder des Kinderwagens schieben einen weißen Berg vor sich her, bevor sie ganz blockieren.

Aus Protest gegen die Kälte an den Füßen, wird nun auf die Flocken eingetreten.

Also den Wagen ankippen, was mit begeistertem Juchzen kommentiert wird. Das Schneetreiben wird inzwischen dichter. Kein Hausmeister ist zu sehen. Wahrscheinlich haben sie ebensowenig wie wir dem Wetterbericht geglaubt, als der gestern abend für heute eine Schneedecke versprach. Mitten in der Großstadt. Der Fahrer des Linienbusses hat auch seine Not. Das Fahrzeug schlingert verdächtig an der Haltestelle.

Aus dem Kinderwagen erklingt Protestgeschrei. Vorwitzige Schneeflocken sind unter der Plane hindurch der Kleinen ins Gesicht geflogen, zwei hängen sogar an den Wimpern fest. Dem Kind reicht es. Es will jetzt selbst ausprobieren, wie es ist, durch den Schnee zu laufen.

Beim Herausheben strampelt sie aufgeregt und verliert schnell einen Stiefel samt Socke. Für zwei, drei Sekunden steht ein Fuß nackt im Schnee. Ungläubig schauen mich zwei braune Augen an. Und während Socke und Stiefel den Fuß schon wieder bedecken, formiert der Mund klagend das Wort „kalt“. Für diese Hinterhältigkeit wird der Schnee bestraft. Die Kleine stampft mit ihren Stiefeln auf ihn ein.

Als wir um die Ecke biegen, dreht da ein Mann verzückt Runden auf einem kleinen Trecker mit Schiebeschild. Gerade dreht er auf der Stelle. Als er uns sieht, winkt er grinsend. Ein Hausmeister, der sich offenbar freut, daß er dank des vielen Schnees dem Familiensonntag entkommen konnte und jetzt seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen kann: Trecker fahren.