© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/19 / 22. Februar 2019

„Ein neuer Blick auf Weimar“
Die Deutschen, geschichtlich und charakterlich zu Revolution und Demokratie unfähig? Zumindest bis 1989 herrschte dieses Bild vor. Nun kommt der Historiker Robert Gerwarth in seinem neuen Buch über die Novemberrevolution von 1918 zu einem anderen Resultat
Moritz Schwarz

Herr Professor Gerwarth, in Deutschland ereignete sich Ende 1918 die „größte Revolution aller Zeiten“, so der Titel Ihres Buches. Was haben wir verpaßt?

Robert Gerwarth: Es handelt sich um ein Zitat des Journalisten und Zeitzeugen Theodor Wolff, den ich nach langen Debatten mit dem Verlag als Titel ausgewählt habe. Ich finde es passend.  

Warum?

Gerwarth: Weil es die Perspektive von Zeitgenossen, die die Revolution im November 1918 erlebt haben, in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. 

Warum ist das wichtig? 

Gerwarth: Die sogenannte Novemberrevolution, wie überhaupt die ganze Weimarer Republik, werden von uns seit Jahrzehnten vor allem aus der Rückschau bewertet. Sprich, wir betrachten die erste deutsche Demokratie von ihrem Ende, ihrem Scheitern her.

Was ist daran falsch?

Gerwarth: Unser bisheriges, auf 1933 zentriertes Bild vermittelt unterschwellig den Eindruck einer fast zwangsläufigen Entwicklung der Geschichte nach 1918 hin zu Hitler. Wechselt man jedoch, wie ich in meinem Buch, die Perspektive, etwa indem man auf Revolution und Republik von ihrem Beginn her schaut – deshalb auch das Augenmerk auf zeitgenössische Urteile, wie das Theodor Wolffs –, ergibt sich ein ergebnisoffener, „neuer“ Blick auf beides. 

Inwiefern? 

Gerwarth: Dann erscheint die Weimarer Republik nicht mehr als von Anfang an todgeweiht, sondern eben auch als ein mit Hoffnungen und Erwartungen verknüpfter Aufbruch, eine Chance. Also als all das, was sie für viele Zeitgenossen damals auch tatsächlich war. Und Friedrich Ebert etwa – Ende 1918 Parteiführer der Mehrheits-SPD, Reichskanzler und Vorsitzender des revolutionären „Rats der Volksbeauftragten“ –, erscheint nicht mehr als Mitschuldiger am späteren Untergang, weil er einen „Pakt“ beziehungsweise Kompromiß mit der Armee und den alten Eliten des Kaiserreichs geschlossen hatte. Sondern als ein Pragmatiker, der in der Krise von 1918 Verantwortung übernahm und sich auf das aus seiner Sicht Machbare konzentrierte.

Der klassische Vorwurf gegen ihn lautet, er habe mit diesem „Pakt“ die Novemberrevolution „verraten“ und der Weimarer Republik einen tödlichen Geburtsfehler verpaßt. 

Gerwarth: Die Republik existierte zehn Jahre danach immer noch und hatte extreme Herausforderungen – Hyperinflation, Putschversuche von links und rechts, die Auswirkungen des Friedensvertrags und die Ruhrbesetzung – überstanden. 1928 erschien die Demokratie gefestigter denn je.

Damit rührt Ihr Buch an ein Dogma: Denn nach bisher verbreiteter Lesart gilt die Erhebung Ende 1918 als „gescheiterte Revolution“ und damit als Beweis für einen angeblich verfehlten, weil zur Demokratie unfähigen deutschen Volkscharakter.

Gerwarth: Ob man die Revolution als „gescheitert“ bewertet, hängt davon ab, welche Erwartungen man an sie hatte. Aus Sicht der damaligen USPD – der Unabhängigen Sozialdemokratie –, einer 1917 entstandenen linken Abspaltung der SPD, aber auch des Spartakusbundes und der Ende Dezember 1918 gegründeten KPD handelte es sich fraglos um eine „halbe“ Revolution. Die Vorstellungen und Ziele, die die USPD oder gar die KPD von der Revolution hatten, wurden damals aber nur von wenigen Deutschen geteilt. Bei der Wahl zur Nationalversammlung im Januar 1919 etwa bekam die USPD gerade mal 7,6 Prozent der Stimmen, die KPD trat gar nicht erst an, wohl auch, weil sie um ihre geringen Chancen bei der Wahl wußte. Die Vorstellung, die die große Mehrheit der damaligen Deutschen von der Revolution hatte, bestand dagegen vor allem aus zwei Punkten: Beendigung des Weltkriegs und Einführung der parlamentarischen Demokratie – und beides ist damals gelungen. Gemessen an diesen Erwartungen ist die Novemberrevolution also nicht „gescheitert“.

Aber wie kam es dann zu dem die letzten Jahrzehnte dominierenden, und noch heute virulenten, gegenteiligen Bild von ihr?

Gerwarth: Seit 1945 war die Bewertung der Revolution überschattet von der berechtigten Frage nach den tieferen Ursachen für den Aufstieg Hitlers. Unter Historikern der alten Bundesrepublik, insbesondere ab den siebziger Jahren, war der Gedanke populär, daß das von der USPD geforderte Rätesystem, zusammen mit der Verstaatlichung von Schlüsselindustrien, zu mehr Demokratie geführt hätte. Daß diese Minderheitenforderung von 1918 demokratisch in keiner Weise legitimiert gewesen wäre, wurde dabei ausgeblendet. 

Sie setzen dem in Ihrem Buch also den Standpunkt der großen Mehrheit der damaligen Zeitzeugen entgegen. Und danach war es die „größte Revolution aller Zeiten“?

Gerwarth: Auf jeden Fall wurde sie von vielen Zeitgenossen als große Zäsur, als eine umstürzende Revolution wahrgenommen und zwar auf allen Seiten des damaligen politischen Spektrums – mit Ausnahme der KPD.

Aber ist die Berufung auf Zeitzeugen nicht fragwürdig? Beispiel: Aus Sicht vieler Frontsoldaten war das deutsche Heer – weil bei der Kapitulation 1918 tief in Feindesland stehend – im Felde unbesiegt. Dennoch war dieser Eindruck falsch, tatsächlich war man, wie Hindenburg und Ludendorff wußten, militärisch am Ende.

Gerwarth: Auch hier ist das heute geläufige Bild von den Frontsoldaten, das Sie eben dargestellt haben, durch unsere Perspektive der Rückschau verzerrt. Wenn wir an Frontsoldaten denken, nehmen wir an, daß alle so dachten wie Ernst Jünger, der uns heute im historischen Gedächtnis geblieben ist. Oder daß eine Mehrheit der Veteranen 1918 zu Faschisten wurden. Tatsächlich wollten im November 1918 die meisten Soldaten den Krieg beenden und nach Hause. Allerdings, damit hier kein Mißverständnis entsteht: Worum es mir mit meinem Buch nicht geht ist, die eine historiographische „Meistererzählung“ – Stichwort „gescheiterte“ Revolution – nun durch eine neue, andere „Meistererzählung“ zu ersetzen. Nein, mir geht es darum, die bisherige Perspektive zu erweitern, indem ich neue Akzente setze – wie etwa dem Blickwinkel der Zeitgenossen Aufmerksamkeit zu schenken, aber auch die deutsche Geschichte in ihrem europäischen Kontext zu sehen. 

Eine Folge wäre, daß die sogenannte Friedliche Revolution von 1989 nicht mehr die erste friedliche und erfolgreiche deutsche Revolution wäre – als die sie bisher gilt. 

Gerwarth: Das stimmt. Denn im Vergleich zu anderen Revolutionen am Ende des Ersten Weltkrieges war die deutsche Novemberrevolution weitgehend unblutig. Das änderte sich erst 1919. 

Allerdings entlastet Ihre Berufung auf die Mehrheit der Zeitzeugen 1918 weder die Revolution noch die Weimarer Republik  von dem Vorwurf, von Beginn an den Weg zu Hitler geebnet zu haben. Warum halten Sie auch dieses Verdikt für unberechtigt?   

Gerwarth: Natürlich beinhalten auch Novemberrevolution und Entstehung der Weimarer Republik Faktoren, die relevant für die weitere Entwicklung, auch hin zu Hitler waren. Richtig ist aber auch, daß es in dieser Hinsicht keine Zwangsläufigkeit gab. So darf man etwa nicht vergessen, daß Hitler noch Anfang 1929 Chef lediglich einer Kleinpartei war, die damals scheinbar keinerlei Aussicht hatte, jemals an die Macht zu kommen. Das änderte sich erst mit der Großen Depression. 

Dann ist Hitler keine Zwangsläufigkeit, sondern doch nur der berühmte „Betriebsunfall der Geschichte“. Das aber gilt heute als Relativierung des Nationalsozialismus. Sie dagegen sagen, das ist Fakt?  

Gerwarth: Das Wort „Betriebsunfall“ trifft es nicht. Denn nach 1929 waren die Wahlergebnisse nun mal, wie sie waren. Mit jedem Wahlerfolg zwischen 1930 und 1932 wurde eine Machtbeteiligung Hitlers immer wahrscheinlicher. Allerdings nahm sein Erfolg in der zweiten Reichstagswahl 1932 schon wieder deutlich ab, so daß seine demokratischen Gegner bereits das Ende der NSDAP vorhersagten – womit sie aber irrten. 

Das widerspricht der Betriebsunfall-These allerdings nicht wirklich, wonach es nicht zwingend zu Hitler gekommen ist. Er also nicht „logische“ Folge einer angeblich verfehlten deutschen Nationalgeschichte und eines angeblich antidemokratischen Volkscharakters der Deutschen war. 

Gerwarth: Ich glaube, der Vorstellung eines deutschen „Sonderweges“, der zwangsläufig im Dritten Reich endete, hängt heute kaum noch ein Historiker an. Nein, es war vor allem der Weltkrieg und die Kriegsniederlage, die den Aufstieg extremistischer Parteien ermöglichten. Denn vermutlich hätten sich ohne den Weltkrieg weder die russischen Bolschewisten noch die Nationalsozialisten durchsetzen können. Obendrein bedurfte es der Weltwirtschaftskrise, um der NSDAP zu ermöglichen, zur stärksten Partei in Deutschland aufzusteigen. Wobei sie selbst dann noch weit von einer absoluten Mehrheit entfernt war und mit einem Wahlergebnis von 37 Prozent einen Koalitionspartner brauchte, um eine Regierung zu stellen. Die Erosion der Demokratie nach 1929 war auch kein rein deutsches Phänomen. Außer in Finnland und der Tschechoslowakei waren 1933 fast alle 1918 in Europa gegründeten Demokratien schon wieder autoritären Regimen gewichen. Deutschland stellte also keinen Sonderfall dar, sondern fügt sich vielmehr in eine Entwicklung ein, die damals leider in ganz Mittel- und Osteuropa vor sich ging. 

Also sind nicht nur das angebliche Scheitern der Novemberrevolution sowie die Wahl Hitlers nicht auf den deutschen Nationalcharakter zurückzuführen, sondern auch das Scheitern der Weimarer Republik nicht? Obwohl auch dies seit Jahrzehnten immer wieder kolportiert wird?  

Gerwarth: Ja, durchaus, denn schauen wir uns etwa das Ergebnis der Reichstagswahl von 1928 an, bei der die SPD mit fast dreißig Prozent mit Abstand stärkste Partei wurde und die Parteien der Mitte – außer ihr waren das Zentrum, DVP und DDP – zusammen fast sechzig Prozent bekamen. Während die NSDAP als randständige Splitterpartei mit 2,6 Prozent abschnitt. Und so sah es gegen Ende des Jahrzehntes viel eher so aus, als würde sich die Republik behaupten. Wenig wies damals darauf hin, daß sie fünf Jahre später schon verschwunden sein würde.

Wenn die Fakten so sind, wie konnte sich die dann offenbar unhaltbare Nationalcharakter-These in der öffentlichen Debatte so verbreiten und jahrzehntelang halten?

Gerwarth: Historische Debatten sind auch immer selbst historisch, sprich vom Zeitgeist geprägt. Aber irgendwann werden auch sie selbst historisiert und Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Untersuchungen. Diese Abhängigkeit der Betrachtung von der jeweiligen Epoche sehen Sie etwa auch daran, daß in der DDR die Historiker in den Mittelpunkt der Debatte um das Scheitern der Weimarer Republik das Scheitern der Zusammenarbeit von SPD und KPD damals stellten – woraus sich eine Legitimation für die herrschende SED als sozialistischer Einheitspartei ergab. Während die Debatte in der Bundesrepublik von wechselnden Trends und den unterschiedlichen weltanschaulichen Standpunkten der Historiker geprägt war. So betonten eher konservative Historiker, die Weimarer Republik sei an den zu starken Extremen – NSDAP und KPD – gescheitert. Während eher linke Historiker meinten, eine entscheidende Ursache sei gewesen, daß 1918 zuwenig Demokratie gewagt worden sei.

Und wer hat recht? 

Gerwarth: Darauf gibt es keine endgültige Antwort. Jedoch mutet letzteres erneut wie eine typisch retrospektive Schau an, also ein Blick auf Weimar, mehr geprägt von der Sicht der eigenen Gegenwart, als vom Verständnis für die Zeit damals. Denn die Forderung, mehr Demokratie zu wagen, läßt sich aus der komfortablen Situation der stabilen und prosperierenden Bundesrepublik leicht erheben, verkennt allerdings, in welch schwieriger Lage sich Friedrich Ebert und seine MSPD damals befunden haben. Die sahen die demokratische Revolution existentiell bedroht, von links und rechts, und sich angesichts von Kriegsniederlage, Versorgungsproblemen, und Millionen zu demobilisierenden Soldaten vor schwerste Herausforderungen gestellt. In dieser Gemengelage sahen sie – sicher auch vor dem Hintergrund der Russischen Revolution – die Gefahr eines Bürgerkrieges oder einer anderen Form von Chaos als durchaus real an. 






Prof. Dr. Robert Gerwarth, leitet das Zentrum für Kriegsstudien am irischen University College Dublin. Er studierte in Berlin und Oxford und absolvierte Forschungsaufenthalte am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz sowie an den Universitäten Marburg, Oxford, Princeton und Harvard. Er verfaßte mehrere Bücher, darunter 2011 die hochgelobte Biographie „Reinhard Heydrich“ und die preisgekrönte Studie „Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs“ (2017). Im Herbst erschien sein neues Werk: „Die größte aller Revolutionen. November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit“, mit dem er das bisherige Bild der Epoche überzeugend zu erhellen weiß. Geboren wurde Gerwarth 1976 in Berlin. 

Foto: Erfolgreiche Revolution, erfolgreiche Republik – Wahlkampf 1919 in Berlin: „Die Entwicklung hin zu Hitler folgte keiner Zwangsläufigkeit. Noch Anfang 1929 war die NSDAP nur eine randständige Splitterpartei, scheinbar ohne Aussicht, je zur Macht zu kommen ... Und bereits 1932 nahm ihre Bedeutung wieder ab, so daß manche sogar schon ihr Ende vorhersagten“

 

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