© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/19 / 22. Februar 2019

Mehr Fairneß wagen
EU-Handelspolitik: Die Suche nach einem Konsens beim Brexit muß neu beginnen / Knackpunkt Arbeitnehmerfreizügigkeit
Dirk Meyer

Sollte das Vereinigte Königreich am 29. März tatsächlich aus der EU austreten, haben vor allem der Deutschland und Europa insgesamt viel zu verlieren. So führt der Brexit zu einem Verlust der Sperrminorität des marktwirtschaftlich ausgerichteten ehemaligen „D-Mark-Blocks“ (Deutschland, Niederlande, Österreich und Finnland) auf EU-Ebene. Zusammen mit Großbritannien kann diese Minderheit derzeit den hierzu notwendigen 35-Prozent-Bevölkerungsanteil gerade noch erreichen.

Die Briten könnten einseitig auf Zölle verzichten

Dies scheinen Finanzminister Olaf Scholz und Amtsvorgänger Wolfgang Schäuble zu vergessen, wenn sie für eine Aufhebung des Einstimmigkeitsprinzips in Steuerfragen plädieren. EU-Steuerbeschlüsse könnten dann gegen den Willen der finanzkräftigeren Nordstaaten vom protektionistisch orientierten „Club Med“ beeinflußt werden. Die Briten sind zudem wichtig für eine starke EU im Verhältnis zu den USA und China. Neben ihrer Wirtschaftskraft besitzen die Briten einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat und im Gegensatz zu Frankreich haben sie ihre Atomwaffen in die Strukturen der Nato eingebunden.

Eine Scheidung im Konsens ist existentiell für die künftige EU. Knackpunkt des Austrittsvertrags vom November ist der sogenannte Backstop. Er verhindert eine harte EU-Außengrenze mit Kontrollen von der Republik Irland zu Nordirland. Ein späteres Abkommen über die zukünftigen Beziehungen der EU zum Vereinigten Königreich soll den Backstop konkretisieren. Bis dahin gilt diese unkündbare Auffanglösung. Großbritannien würde ohne Mitsprache, aber mit einem gewissen EU-Finanzbeitrag, in der Zollunion verbleiben. Die Briten würden EU-Zölle auf Waren von außerhalb erheben und 20 Prozent als Verwaltungspauschale behalten können. Der Rest würde in den EU-Haushalt abfließen – ohne finanzielle Beteiligung.

Eine Zollunion setzt angeglichene Produktstandards voraus. Entsprechend hat sich die EU die Übernahme von Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards zusichern lassen. Eigenständige Handelsabkommen mit Drittstaaten könnten die Briten deshalb nicht schließen. Zukünftige Freihandelsabkommen würden ohne sie beschlossen. Zollsenkungen bei Importen müßten sie mittragen, während kein Automatismus hinsichtlich eines zollfreien Marktzutritts bei den Exporten bestünde. Da Nordirland im Binnenmarkt bleibt, steht die territoriale Integrität des Königreichs in Frage. Weil die Seegrenze zwischen dem Vereinigten Königreich und Nordirland zur Binnenmarktgrenze wird, könnten unterschiedliche Produktstandards zu Handelsbeschränkungen führen: Großbritannien wäre eine „Handelskolonie“ der EU.

Dies begründet die Devise „No deal is better than a bad deal“. Doch was wären die Folgen eines Austritts ohne Abkommen? Legt man beidseitig die bisherigen Außenzölle der EU zugrunde, so würde der Handel für Pkw (zehn Prozent), Autozulieferteile (drei bis 4,5 Prozent), Lkw (22 Prozent) und Agrarprodukte (8,8 bis 12,2 Prozent) verteuert werden. Da der Anteil britischer Exporte (45 Prozent) und Importe (53 Prozent) mit den 27 EU-Mitgliedstaaten wesentlich größer ist als umgekehrt – nur sieben bzw. vier Prozent des EU-Handels findet mit der Insel statt – sind die Verluste für die Briten entsprechend spürbarer. Gemäß einer Studie des Ifo-Instituts würde das britische BIP um 1,5 bis 3,5 Prozent einbrechen, während der Rückgang für die EU-27-Länder bei lediglich 0,25 bis 0,6 Prozent liegen würde. Eine interessante Gegenstrategie der Briten wäre der einseitige Verzicht auf Zölle. Gemäß der Meistbegünstigungsklausel, nach der Handelsvorteile allen Partnern gleichberechtigt zu gewähren sind, wären außer den EU-Staaten auch die übrigen Handelspartner von Zöllen befreit. Den Nutzen hätten britische Konsumenten sowie Firmen mit hohen Vorleistungsimporten (Pharma, Elektro und Maschinenbau). Demgegenüber verliert die Landwirtschaft durch die Importkonkurrenz. Der BIP-Verlust wäre für die Briten wesentlich geringer und würde mit 0,5 Prozent etwa dem der EU-Staaten entsprechen.

Doch warum keine Lösung im Konsens mit langfristiger Stabilität und Wohlfahrtsgewinnen für alle anstreben? Solange keine politische Union erreicht ist und nationale Vielfalt in vielen Belangen herrscht (Kultur, Traditionen, Soziales, Besteuerung) behält die Arbeitnehmerfreizügigkeit Unterschiede zum freien Waren- und Kapitalverkehr sowie der Niederlassungsfreiheit, die zusammen das Binnenmarktprinzip ausmachen. Warum also nicht auf die freie Arbeitskräftewanderung verzichten? Schließlich stand der polnische Klempner im Fokus der Brexit-Befürworter.

Wie die Freihandelstheorie zeigt, bedingen sich freier Güterhandel und die Wanderung von Kapital und Arbeitnehmern keinesfalls. Der Güterhandel kann die Arbeitskräftewanderung ersetzen. Indem der jeweils reichliche und deshalb günstige Produktionsfaktor in der Produktion intensiv eingesetzt wird, wandert er quasi mit den Exportgütern in das andere Land. Deutschland liefert Textilmaschinen nach Rumänien, mit denen arbeitsintensiv produzierte Bekleidung als Export nach Deutschland geht. Insofern könnte man den Briten eine Zollunion bei Mitsprache in allen Belangen anbieten, ohne auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu bestehen.

Noch besser wäre es, den EU-Vertrag dahingehend zu ändern, daß eine Migration in den Sozialstaat unterbleibt. Zuwandernde Erwerbstätige müßten Steuern und Abgaben im Gastland entrichten, um im Gegenzug alle beitragsfinanzierten Sozialleistungen und Zugang zur öffentlichen Infrastruktur zu erhalten. Jedoch wäre der Zugang zu allen steuerfinanzierten Sozialleistungen (Grundsicherung, Wohngeld, Kindergeld) während einer Wartezeit von fünf Jahren versperrt. Parallel würden Ansprüche auf Leistungen des Heimatlandes gemäß dem Herkunftslandprinzip fortbestehen. Dies wäre ein fairer Kompromiß, und der Brexit hätte ein bedeutendes Reformelement für die EU angestoßen – und der Brexit selbst wäre verzichtbar.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Er schrieb unter anderem das Buch „Euro-Krise: Austritt als Lösung?“