© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/19 / 22. Februar 2019

Vor 75 Jahren erschien Hayeks bahnbrechendes Buch „Der Weg zur Knechtschaft“
Eine frühe Warnung
Erich Weede

Vor fünfundsiebzig Jahren war der gebürtige Wiener Friedrich August von Hayek Professor an der London School of Economics. 1974 wurde er mit dem Nobelpreis für Wirtschaft geehrt. Noch vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat er in englischer Sprache das Buch „Der Weg zur Knechtschaft“ veröffentlicht. Vor allem im angelsächsischen Sprachraum hat es wie die späteren Werke Hayeks begeisterte Leser gefunden, sogar unter Politikern.

Obwohl Hayek in den 1960er Jahren Professor an der Universität Freiburg war, ist sein Einfluß im deutschen Sprachraum schwächer gewesen. Nur zu Zeiten Ludwig Erhards gab es eine Affinität zwischen dem wirtschaftspolitisch herrschenden Zeitgeist und hayekianischem Denken. Erhard und Hayek wußten, daß es ohne wirtschaftliche Freiheit keinen Wohlstand geben kann. Ohne Freiheit kann man nur den Mangel „gerecht“ verteilen.

Die Affinität von hayekianischem Denken und Zeitgeist ist mit der 1968er-Revolte zu Ende gegangen. Teile der studierenden Jugend haben sich damals dem Marxismus zugewandt. Im Laufe der Zeit haben die Achtundsechziger Positionen in der SPD und mehr noch bei den Grünen besetzt. 

Als viele Achtundsechziger sich vom Marxismus gelöst hatten, ist an dessen Stelle die Verachtung für das bloß Ökonomische getreten. Die Einsichten der klassischen und österreichischen Schule der Ökonomie wurden dabei zunehmend verschüttet – vor allem bei Studenten der Soziologie oder Politikwissenschaft, bei denen ökonomische Unkenntnis gefährlich wird.

Drei Einsichten sind grundsätzlich. Schon am Ende des 18. Jahrhunderts erkannte Adam Smith, daß die Hoffnung auf den Erwerb von Privateigentum ein notwendiger Arbeitsanreiz ist, daß deshalb die Sicherung von Eigentumsrechten eine der wichtigsten Staatsaufgaben ist. Als Wettbewerb unter Drückebergern kann Wirtschaft nicht funktionieren. Kurz nach der leninistischen Machtergreifung in Rußland erkannte der österreichische Ökonom Ludwig von Mises, daß eine funktionierende Volkswirtschaft unbedingt Privateigentum an Produktionsmitteln braucht, damit der Wettbewerb unter voneinander und vom Staat unabhängigen Unternehmern zu Knappheitspreisen auf den Inputmärkten führt, wo Unternehmer Rohstoffe, Zwischenprodukte und Arbeitskräfte nachfragen. Ohne Knappheitspreise kann es keine rationale Ressourcenallokation und damit keinen Wohlstand geben. Ein chinesischer Ökonom hat die Einsicht von Mises anders formuliert, um sie dem Politbüro seiner KP schmackhaft zu machen: Ohne Wettbewerb unter privaten Unternehmen besteht die Gefahr einer Industriepolitik, die komparative Kostenvorteile systematisch mißachtet. Im real existierenden Sozialismus ist es vorgekommen, daß man aus wertvollen, auf freien Märkten gut verkäuflichen Rohstoffen minderwertige Konsumgüter erzeugt hat.

Während in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überall das Militär einen großen Teil der staatlichen Mittel beanspruchte, dominieren seit der zweiten Hälfte zumindest in Europa Transfers und Sozialleistungen. Das Ausmaß der wirtschaftlichen Freiheit schrumpft. 

Hayek hatte dann 1945 hinzugefügt, daß nur dezentralisierte Entscheidungen in einer freien Marktwirtschaft die Ausnutzung des auf Millionen Köpfe verstreuten Wissens erlauben. Hayek verwendet dabei einen umfassenden Wissensbegriff, der nicht nur explizites (etwa akademisches) Wissen, sondern auch implizites Wissen umfaßt, wie es in der Arbeitspraxis von Handwerkern oder Bauern enthalten ist. Wissen muß nicht allgemeingültig sein, sondern kann sich auf spezifische Situationen beziehen, wie das Wissen des Bauern, was auf welchem seiner Felder am besten wächst, das Wissen des Unternehmers, was welcher seiner Kunden will, oder was welcher Lieferant kann. Die Implikation der drei Einsichten zu Arbeitsanreizen, Privateigentum an Produktionskapital und Wissensnutzung ist, daß Planwirtschaft nicht funktionieren kann. Man kann in der Wirtschaftsgeschichte der sozialistischen Länder den Beleg für die Richtigkeit dieser Einsichten sehen. Nur ein Beispiel aus einer heute noch existierenden Planwirtschaft neben einer funktionierenden Marktwirtschaft: Nordkorea schafft pro Kopf noch nicht einmal fünf Prozent der südkoreanischen Leistung.

„Der Weg zur Knechtschaft“ ist eine Warnung vor dem schleichenden Verlust wirtschaftlicher Freiheit durch die ständige Ausweitung der politischen Zuständigkeiten zu Lasten der Entscheidungsfreiheit von Individuen und Unternehmen. Man kann in dem Werk eine frühe Warnung vor einem dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus sehen. Wenn Hayeks Einsichten richtig sind, dann muß das die Chancen der Wissensnutzung und damit des Erwerbs von Wohlstand untergraben. Obwohl Hayek die Armut lieber durch Wachstum als durch Umverteilung überwinden will, obwohl er Ungleichheit für funktional hält, weil mit Anreizen verbunden, lehnt er nicht jede Art staatlicher Fürsorge für die Bedürftigen ab.

In einem Brief hat der damals einflußreichste Ökonom, der Brite John Maynard Keynes, drei Fragen aufgeworfen. Weil Hayek gleichzeitig vor den Gefahren der Planwirtschaft warnt, aber dennoch nicht radikal alle staatlichen Eingriffe in die Volkswirtschaft ablehnt, entsteht das Problem der schiefen Ebene. 

Wie steil ist diese schiefe Ebene, wie groß  ist die Gefahr des Hineinrutschens in die Planwirtschaft oder die des schleichenden Sozialismus? Hayek hält die schiefe Ebene für gefährlicher als Keynes. Für radikale Marktwirtschaftler, die sich eher auf Mises als auf Hayek berufen, hat Hayek das Problem der schiefen Ebene noch unterschätzt, was bis zu dem Vorwurf an Hayek geht, kaum noch von Sozialdemokraten unterscheidbar zu sein.

Zweitens unterscheiden sich Hayek und Keynes in den Fragen, wie groß die Gefahr von Arbeitslosigkeit in freien Marktwirtschaften ist und was man bei weitverbreiteter Arbeitslosigkeit tun muß. Keynes hält die Gefahr für größer als Hayek und empfiehlt aus Sorge um die politische Stabilität staatliches Eingreifen. Hinter diesem theoretischen Disput stehen unterschiedliche Schlußfolgerungen, die Hayek und Keynes aus der Begrenztheit menschlichen Wissens, die beiden bewußt ist, gezogen haben. Hier kann Hayek als Vorläufer der in den 1960er Jahren in den USA entstandenen „Public Choice“-Schule gelten, die die Risiken des Staatsversagens herausgearbeitet hat, während Keynes eher die Gefahren des Marktversagens auf Arbeitsmärkten im Blick hat.

Drittens unterscheiden sich Hayek und Keynes in der Einschätzung, ob der kulturelle und institutionelle Hintergrund von Nationen einen gewissen Schutz vor dem Abgleiten in den Totalitarismus bieten kann. Zumindest für die angelsächsischen Länder ist Keynes da optimistisch, weshalb er das oben schon angesprochene Problem der schiefen Ebene nicht so gefährlich findet wie Hayek. Hayek dagegen befürchtet, daß politische Interventionen den kulturellen und institutionellen Schutz von Marktwirtschaft und Freiheit aufzehren.

Wenn man sich die Wirtschaftsgeschichte ansieht, dann scheint nicht nur Keynes, sondern auch noch Hayek die Gefahren des schleichenden Sozialismus unterschätzt zu haben. Am Anfang des 20. Jahrhunderts, vor der kriegsbedingten Ausweitung 1914, waren die Staatsquoten westlicher Länder meist in der Nähe von zehn Prozent, nirgendwo über 17 Prozent. Heute sind sie oft in der Nähe von 50 Prozent, in Frankreich darüber. Während in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überall das Militär einen großen Teil der staatlichen Mittel beanspruchte, dominieren seit der zweiten Hälfte zumindest in Europa zunehmend Transfers und Sozialleistungen. Das Ausmaß der wirtschaftlichen Freiheit schrumpft.

Mit der europäischen Etage des Sozialstaats ist die Ausweitung deutscher Staatstätigkeit nicht am Ende. Die Willkommenskultur für Hilfsbedürftige aus aller Welt impliziert den Aufbau einer globalen Etage, zuständig für jeden, der unsere

Grenzen erreicht. 

Das betrifft nicht nur Reiche oder Unternehmer, sondern auch normale Arbeitnehmer. Schon bevor ein lediger Arbeitnehmer den doppelten Durchschnittsverdienst erreicht, wird er an der Spitze in Deutschland mit dem Höchststeuersatz belastet. Er muß ungefähr die Hälfte seines Verdienstes für Steuern und Sozialabgaben abtreten.

Dennoch reichen die hohen Steuer­lasten in vielen Demokratien nicht aus, wie man an Budgetdefiziten und Staatsschulden ablesen kann. In vielen westlichen Ländern liegen die expliziten Staatsschulden in der Nähe von 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), auch in Deutschland noch in der Nähe von 60 Prozent. Zählt man die künftig fällig werdenden Versprechungen der Politik, vor allem an Pensionäre und Rentner, hinzu, dann gilt, daß alle größeren westlichen Gesellschaften mit dem Mehrfachen des BIP verschuldet sind. Zusammen mit dem Ergrauen westlicher Demokratien sieht das nach den Vorboten einer Krise aus.

Die Ausweitung der staatlichen Zuständigkeit geht in manchen Sozialstaaten weiter. Die Europäische Union bekommt infolge des Versuchs, den heterogenen Euro-Währungsraum zusammenzuhalten, zunehmend eine Transferfunktion. Unsere Politiker bauen über der nationalen Etage des Sozialstaates trotz seiner ungesicherten Finanzierung nun noch eine europäische Etage. 

Der deutsche (oder niederländische oder österreichische) Leistungsträger und Steuerzahler muß nicht mehr nur bedürftige Landsleute, sondern auch andere Europäer unterstützen, wobei bisher die Griechen für uns am teuersten waren. Damit ist die Ausweitung der Staatstätigkeit noch nicht am Ende. 

Die staatliche Willkommenskultur für Hilfsbedürftige aus aller Welt impliziert den Aufbau einer dritten oder globalen Etage des Sozialstaates. Der ist dann für jeden Menschen zuständig, der es schafft, dessen Grenzen zu erreichen. Die Frage, ob das mit der Erhaltung von wirtschaftlicher Freiheit und Wohlstand im Lande kompatibel ist, gilt in Deutschland schon als politisch inkorrekt.

Der „Weg zur Knechtschaft“ bleibt politisch relevant. Für Hayek ist die wirtschaftliche Freiheit Voraussetzung von Wohlstand und Demokratie. Friedrich August von Hayek ist auch Vertreter der Totalitarismustheorie. Er hebt die Gemeinsamkeiten von Nationalsozialismus und Kommunismus hervor und analysiert die „sozialistische Wurzel des Nationalsozialismus“. In der strikten Unterordnung der Wirtschaft unter die Politik, in der Mißachtung individueller Freiheitsrechte, in der Rücksichtslosigkeit gegenüber den Völkern waren Hitler und Stalin ähnlich. 

Die Mitläufer des linksliberalen Zeitgeistes hindert das heute beim „Kampf gegen Rechts“ nicht, sogar in den Erben des Kommunismus Verbündete zu sehen. Obwohl weder Hayeks Lebenslauf noch seine Schriften und Argumente das rechtfertigen, kann der politisch korrekte Zeitgenosse den Unterschied zwischen national-sozialistischem und hayekianischem Denken kaum erkennen. 

Ist es so schwer, den Unterschied zwischen der Machtkonzentration bei einem Führer und der Machtdezentralisierung durch unternehmerische Freiheit zu erkennen?






Prof. em. Dr. Erich Weede, Jahrgang 1942, Dipl.-Psychologe und Politikwissenschaftler, lehrte Soziologie an den Universitäten Köln und Bonn. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Friedrich-A.-von-Hayek-Gesellschaft. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Chinas Machtzuwachs („Einflußsphären anerkennen“, JF 13/18).

Friedrich A. von Hayek: Der Weg zur Knechtschaft, 1. Neuauflage, Reinbek/München 2014, Lau-Verlag & Handel KG, 322 Seiten, 39,90 Euro

Foto: Friedrich August von Hayek: Der österreichisch-britische Nationalökonom, Politologe und Sozialphilosoph von Hayek war der Ansicht, daß nur dezentralisierte Entscheidungen in einer freien Marktwirtschaft das auf Millionen Köpfe verstreute Wissen auszunutzen erlauben.