© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/19 / 22. Februar 2019

Die Flucht über das zugefrorene Haff aus der Täterperspektive
Unveröffenlichte Bilder eines früheren sowjetischen Piloten von den Flüchtlingstrecks, die sich im Februar 1945 über das Eis aus Ostpreußen retteten
Matthias Bäkermann

Der sowjetische Befehl aus dem Winter 1945 ist klar gefaßt: „Für den 18. Februar hatten die Divisionen einen Spezialauftrag: Vernichten der Kolonnen des Feindes, der sich über das Frische Haff und die Eiswege in der Gegend von Passarge, Narmeln, Neukrug zurückzieht.“ Bei diesen „Feindkolonnen“ handelte es sich allerdings nicht etwa um zurückweichende Wehrmachtseinheiten oder Nachschubtransporte, sondern vorwiegend um Frauen, Kinder und Alte, die sich in endlosen Trecks über das Eis des Frischen Haffs auf die Nehrung zu retten versuchten, um den letzten noch offenen Landweg aus Ostpreußen nach Westen zu erreichen.

Wie ein jetzt im polnischen Portal Polskatimes (Dziennik Baltycki) erstmals veröffenlichter historischer Sensationsfund dokumentiert, war für die sowjetischen Piloten dieses Ziel – lange Reihen unbewaffneter Flüchtlinge auf Pferdekutschen – deutlich ersichtlich. Die bisher unbekannten sieben Aufnahmen und zwei Ablichtungen sowjetischer Dokumente hatte zuvor der polnische Hobbyhistoriker Ryszard Doda aus Alt Passarge (Stara Pasleka) bei Braunsberg (Braniewo) auf seinem Facebook-Profil gezeigt. Diese habe ihm sein russischer Seglerfreund Andrej Harcow aus Kaliningrad mitgebracht, so Doda gegenüber Polskatimes. Die Fotos seien mit einem Bord-Fotoapparat eines sowjetischen Schlachtfliegers Iljuschin Il-2 „Schturmowik“ nach dem Luftangriff auf den schutzlosen „Gegner“ auf dem Eis angefertigt worden.

Nach der sowjetischen Großoffensive („Weichsel-Oder-Operation“) vom 12. Januar 1945 wurde bereits zwei Wochen später Ostpreußen eingeschlossen. Dort verteidigten sich letzte Wehrmachtseinheiten bis zur Kapitulation in Königsberg am 9. April in einem immer kleiner werdenden Kessel. Rasch von der Weißrussischen Front von Warschau nach Norden vorgestoßene Panzereinheiten konnten bereits am 24. Januar östlich von Elbing die Küste bei Cadinen und Tolkemit erreichen. Damit war für alle Ostpreußen der direkte Weg in Richtung Danzig und Pommern versperrt. In dem ungewöhnlich kalten Winter mit wochenlangen Temperaturen bis zu minus 20 Grad wäre der Weg über das Eis der Frischen Nehrung eigentlich passierbar gewesen. Allerdings starben Abertausende Zivilisten durch die sowjetischen Bomben oder auch direkten Tieffliegerbeschuß. Zudem brachen viele Pferdekutschen im Eis ein, da durch die Bombardements viele Treckrouten brüchig geworden waren. „Die Tiefflieger kamen wie Hornissenschwärme nieder und schossen auf Mann und Maus. Die getroffenen Wagen gingen in der schwarzen Ostsee unter. Das Schlimmste waren die Schreie der Pferde, die Menschen waren stumm, es war traumatisch“, erinnert sich 2013 der damals minderjährige Heinz-Jürgen Manier. 

Die Täterperspektive dieses Kriegsverbrechens dokumentiert die Meldung aus einem Armeearchiv der Roten Armee, die Doda mitsamt der Fotos in die Hände gespielt wurden: „Zwischen 15.40 und 16.20 Uhr am 18. Februar 45 flogen zur Erfüllung des Auftrags 8 Gruppen von 4 bis 5 Flugzeugen der 75. und 136. GSchAP. Drei Gruppen fanden sich auf ihrem Flug in schlechtem Wetter wieder – völlige Bewölkung in einer Höhe von 70 bis 100 Meter, Sicht weniger als 1 Kilometer. (...) Fünf Gruppen gelangten trotz schwieriger Wetterverhältnisse zum Ziel und führten den Auftrag aus.“