© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/19 / 22. Februar 2019

„In der Not ist der Nachbar der Nächste“
Die Lawinenkatastrophe von Galtür 1999 hat viele überrascht / Was wurde inzwischen daraus gelernt?
Martina Meckelein

Die 360-Grad-Webcam zeigt ein grandioses Bergpanorama, strahlend blauen Himmel und weißen Schnee satt. 40,5 Kilometer Loipen und 43 Kilometer Skipisten bieten sich dem Wintersportenthusiasten an. Im Tal stehen die typischen alpenländischen rustikalen Hotels mit weißgetünchten Hauswänden, ihren im flachen Winkel herabgezogenen Dächern und den riesigen Balkonen. Der kleine Touristenort Galtür liegt in 1.584 Meter Höhe im Paznaun, zwischen den beiden Gebirgsgruppe Silvretta und Verwall in einer Talweitung in Nordtirol. Im Jahr 1383 wird die erste Kirche geweiht.

Ein Starkschneeereignis ungeheuren Ausmaßes

Heute leben hier 765 Einwohner. Ernest Hemingway besuchte mehrfach den Ort, bezeichnete ihn als „Gebirgs­idyll“. Was auf den ersten Blick allerdings nicht auffällt, ist eine 345 Meter lange und 19 Meter hohe, graue Wand aus Beton, Stahl und Fels. Eine Lawinenschutzmauer. Sie soll das verhindern, was sich vor 20 Jahren ereignete und sich wie ein glühendes Eisen in die Erinnerung der Menschen in Tirol ins Gedächtnis gebrannt hat: die Lawinenkatastrophe von Galtür. Wie gingen die Menschen mit dieser Katastrophe um und welche Erkenntnisse gewannen die Experten? Ein Rückblick auf eine Tragödie.

„Galtür steht natürlich im Fokus der Ereignisse des Winters 1999“, sagt Bürgermeister Anton Mattle gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. „Aber von diesem außergewöhnlichen Wetterereignis waren viele Nationen betroffen.“ Mattle ist 55 Jahre alt, er wuchs in Galtür auf. Er war während des Unglücks vor Ort. Damals wie heute ist er Bürgermeister von Galtür, seit 2013 ist der ÖVP-Politiker Vizepräsident des Landtags von Tirol.

Der Winter 1999 geht im gesamten Alpengebiet als Lawinenwinter in die Analen ein. Ein Starkschneeereignis ungeheuren Ausmaßes. Durch zwei sogenannte Staulagen Ende Januar und Anfang Februar bauen sich enorme Schneedecken auf. Die dritte Niederschlagslage kommt zwischen dem 17. und 25. Februar. Extrem kalte Sturmtiefs wechseln sich mit Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt ab. Allein im Raum Galtür werden vier Meter Neuschnee gemessen. Weiter oben in den Bergen wachsen die Schneemengen weitaus höher an. Ab dem 28. Januar herrscht Lawinenwarnstufe 3, teils auch 4 bis 5.

Die Silvretta-Bundesstraße (B188) nach Galtür, sie ist die einzige Zu- und Abfahrt, wird ab dem 6. Februar immer wieder aus Sicherheitsgründen gesperrt. Doch am 11. Februar, also zwölf Tage vor der Katastrophe wird die Sperrung aufgehoben – um den Urlauber-Schichtwechsel zu ermöglichen. Fernsehteams, die wegen des Lawinenwinters in Tirol und eben auch auf der B188 unterwegs waren, dokumentierten die Öffnung der Schranken und die Durchfahrt der Urlauber. Am 17. wird sie wieder gesperrt. Die Meteorologen äußern sich damals im Fernsehen besorgt über die Situation in den Alpen. Der erste Tote ist am 12. Februar in Chamonix zu beklagen. In dem Dorf Hinterhornbach in Tirol werden am 21. Februar alle 140 Touristen evakuiert.

Am 23. Februar 1999 geht kurz vor 16 Uhr eine Lawine unterhalb des Grates zwischen Grieskopf und Grieskogel vom sogenannten Sonnberg nieder. Die Abrißstelle liegt in 2.700 Meter Höhe. Die Hangneigung beträgt bis zu 125 Prozent. Die Lawine baut sich auf 400 Meter Breite auf und beschleunigt auf 250 Kilometer pro Stunde. Schätzungsweise donnern 300.000 Tonnen Schnee in einer hundert Meter hohen Staubwolke von Norden herab ins Tal – und zermalmen den westlichen Teil eines Ortsteils von Galtür. Die Schneestaublawine kommt erst vor der Kirche zum Stehen. Bis zu sechs Meter hoch hat sich der Schnee mitten im Dorf aufgetürmt. 56 Menschen sind verschüttet.

Unvorstellbare Leistungen in auswegloser Situation

„Einheimische und auch Gäste haben in dieser schier ausweglosen Situation unvorstellbare Leistungen erbracht“, sagt Bürgermeister Mattle. Denn Galtür war auf sich allein gestellt. „Man muß sich vorstellen, daß sie unter widrigsten Bedingungen arbeiteten. Es herrschten Sturmböen von bis zu 140 Stundenkilometern.“ In nur drei Stunden bergen die Retter 25 Verschüttete noch lebend. Doch 31 Menschen sterben, davon 21 deutsche Touristen. Eine lange schwarze Nacht waren die Galtürer und die Gäste auf sich allein gestellt. Wegen des Sturms konnte die größte Evakuierungsaktion durch Hubschrauber in Österreich erst einen Tag später beginnen.

„Generell ist so ein Schicksalsschlag eine große Herausforderung“, sagt Bürgermeister Mattle. „‘In der Not ist der Nachbar der Nächste’, ist ein altes Sprichwort in Galtür. Wir haben eine starke Dorfgemeinschaft. Das hat uns damals geholfen – und tut es bis heute. Aber natürlich stellen sie sich immer die Frage: Warum ist es passiert? War die Lawine vorhersehbar?“

Der österreichische Klimatologe und ehemalige Rektor der Uni Insbruck Franz Fliri (gestorben 2008) sagte nach dem Unglück, Galtür hätte geräumt werden müssen. Er argumentiert, daß in 500 Jahren bei 13 Lawinenabgängen 57 Menschen im Ort gestorben seien. Seine Gegner hielten dagegen, daß von dieser Stelle niemals eine derartige Lawine abgegangen ist. „Es gab damals schon Lawinensimulationen für den Ort“, sagt Mattle. „Bei keiner dieser Simulationen war eine Lawine quer durch den gefahrenfreien Bereich bis in diesen Teil des Ortes gerast.“

Im Dezember 1999 wurde die riesige Lawinenschutzmauer in Galtür fertig. „Sie mußte schon deshalb gebaut werden, um die Menschen zu entlasten“, sagt der Bürgermeister. Doch das ist nicht alles. Durch das Unglück erarbeiteten Experten eine Digitalstrategie. Denn in der Nacht war die Kommunikation aufgrund der analogen Technik unter den Einsatzorganisationen extrem schwierig. „Es war wichtig, alle Behörden untereinander zu vernetzen“, sagt Hermann Spiegl, Leiter der Bergrettung von Tirol, im Gespäch mit der JF. „Jetzt haben wir ein Digitalfunknetz, das Polizei, Rotes Kreuz und die Feuerwehr verbindet.“

„Das Dorf ist dasselbe geblieben“, sagt Bürgermeister Mattle. „Aber das Spezielle an Galtür ist nach dem Unglück, daß Einheimische und damalige Gäste und Hinterbliebene der Opfer engen Kontakt halten.“ Am 23. Februar um 17 Uhr werden die Glocken im Dorf läuten und zum Erinnerungsgottesdienst rufen. „Wir wollen den Trauernden einen Rahmen schaffen“, sagt Mattle. Auch er ist wie jedes Jahr dabei.

Lawinenwarndienste:

 www.lawinenwarndienst-bayern.de

 www.lawinen.at

 www.slf.ch/

Erholungs- und Skigebiet Galtür:

 www.galtuer.com