© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/19 / 22. Februar 2019

Der Flaneur
Noch mal gutgegangen
Tobias Dahlbrügge

München Hauptbahnhof, München Hauptbahnhof!“, plärrt der Lautsprecher. Die Fahrgäste des ICE werden gebeten einzusteigen. Das Wetter ist scheußlich. Ich schlage den Kragen hoch und haste zu meinem Waggon. 

Vor der Tür lasse ich einem älteren Ehepaar den Vortritt. Beide sind auffallend elegant gekleidet, sichtbar teuer, aber nicht zu extravagant. Die Frau trägt zwei Handtaschen, jede ein exquisites Stück. Eine fällt ihr aus der Hand und zu Boden. Bevor ihr Gatte reagieren kann, bücke ich mich und reiche sie ihr. Sie lächelt höflich, aber distanziert. 

Die Situation erfordert nun ein paar unverbindliche Worte und ich sage etwas Belangloses: „Na, das Geld kann man ja verschmerzen, aber die Rennerei zu den Behörden wegen der Dokumente, das braucht man ja nicht.“ Sie antwortet flüchtig: „Ja, das kann man wohl sagen. Vielen Dank.“ 

Vermutlich erholt er sich im Taunus von der Drangsal, fast dem Pleps begegnet zu sein.

Ihr Mann hat die Szene natürlich registriert, ignoriert sie aber demonstrativ, indem er scheinbar versonnen dem Flug einer Taube in der Bahnhofshalle nachschaut. Ich wünsche „Gute Reise“, sie antwortet „Schönen Tag“, und ich zwänge mich in den Zug. Da erst dreht auch er sich wieder um und steigt mit ausdruckslosem Gesicht ebenfalls ein. 

Im Zug sitze ich drei Reihen hinter den beiden und kann ihn beobachten. Einen so imposanten Mensurschmiß sieht man heute nur noch selten, er zieht sich über eine gesamte Wange. Irgendwo habe ich das Gesicht schon mal gesehen, aber ich komm’ nicht drauf. In Frankfurt steigen die beiden aus, gehen an mir vorbei und nicken nicht mal mit dem Kopf. Und plötzlich weiß ich es: Das Gesicht kenne ich von einem Pressefoto! Es war der Vorstandschef eines der größten deutschen Versicherungskonzerne. 

Ich packe den Laptop aus und Google-Bilder gibt mir recht. Vermutlich erholt er sich im Taunus von der Drangsal, um ein Haar mit einem Prototyp des Plebs in Kontakt gekommen zu sein.