© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/19 / 01. März 2019

„Millionen von Toten weltweit“
Mit seinem Buch „Die Smartphone-Epidemie“ sorgt Bestsellerautor Manfred Spitzer wieder für Debatten. Der Neurowissenschaftler warnt, die kleinen Telefone sind eine fatal unterschätzte globale Gefahr
Moritz Schwarz

Herr Professor Spitzer, übertreiben Sie nicht damit, vor einer „Smartphone-Epidemie“ zu warnen? 

Manfred Spitzer: Eigentlich hätte ich sogar „Pandemie“ schreiben müssen, denn eine Epidemie verbreitet sich nur begrenzt, Smartphones dagegen sind längst weltweit präsent. 

Die Frage zielt auf die Analogie zu einer ansteckenden Krankheit. 

Spitzer: Glauben Sie nicht, ich würde so was sagen, ohne es gut überlegt zu haben. Als Arzt lese ich viel Fachliteratur, aus der klar hervorgeht, daß Smartphones zu Gesundheitsschäden führen. 

Zum Beispiel? 

Spitzer: Zum Beispiel Kurzsichtigkeit. 

Die kann auch das Lesen von Büchern verursachen.

Spitzer: Nur sind diese nicht mehr das Problem. Denn im statistischen Mittel stecken Jugendliche im Schnitt nur noch 15 Minuten pro Tag die Nase in ein Buch, drei Stunden aber schauen sie auf ihr Smartphone. 

Die Ursache ist also eine neue, nicht aber die Folge. Dramatisch klingt das somit nicht.

Spitzer: Da irren Sie sich, denn die Häufigkeit nimmt dramatisch zu. Noch sind bei uns in Europa „nur“ dreißig bis vierzig Prozent der jungen Menschen kurzsichtig. In Südkorea dagegen – weltweit Platz eins in puncto Smartphone-Produktion und -nutzung – sind es bereits 95 Prozent und in China schon achtzig. Und Kurzsichtigkeit erhöht die Wahrscheinlichkeit, im Alter zu erblinden auf zehn Prozent! Das bedeutet für China etwa einhundert Millionen Blinde, wenn die erste Smartphone-Generation alt ist. Und weil Peking weiß, daß man sich das nicht leisten kann, hat China Smartphones an Schulen verboten. Denn Kurzsichtigkeit läßt sich verhindern, wenn die Augen in den Pausen nicht auch noch auf Bildschirme starren, sondern sich durch den Blick ins Helle und Weite entspannen. Allerdings ist Kurzsichtigkeit nur eine gesundheitliche Folge des Smartphones unter vielen. 

In Ihrem Buch entfalten Sie diesbezüglich ein regelrechtes Panorama des Schreckens – bis hin zum Verfall von Gesellschaft, Staat und Demokratie. Ist das nicht doch etwas hochgegriffen? 

Spitzer: Ich denke nicht. So trägt das Smartphone weltweit massiv zur Weiterverbreitung sogenannter Fake News, sowie zur Radikalisierung der Diskurse bei. Und WhatsApp ist zu einer gefährlichen Gerüchteküche geworden, die zuletzt etwa in Indien zu grausamen Lynchmorden geführt hat. Überdies ermöglicht das Smartphone unsere fast lückenlose Überwachung. Sie glauben dennoch nicht an einen fatalen Sitten- und Gesellschaftsverfall durch Smartphones? Was tun heutzutage schon Achtjährige auf dem Pausenhof? Sie zeigen sich gegenseitig härteste Pornographie und Enthauptungsvideos. Nach jüngsten Meldungen leiden 1,4 Millionen Schüler unter Cybermobbing – Tatwerkzeug Nummer eins: das Smartphone. In Berlin hat sich mutmaßlich deshalb jüngst eine Elfjährige das Leben genommen, und bereits 270.000 Jugendliche sollen aus dem gleichen Grund schon mal Selbstmord erwogen haben. Oder denken Sie daran, daß ein Gesetz vorbereitet wird, das verbietet, Tote zu filmen. Warum jetzt, über einhundert Jahre nach Erfindung der Kamera, aber nur wenige Jahre nach Einführung des Smartphones?

Weil man früher nicht jederzeit eine Kamera in der Tasche hatte. 

Spitzer: Auch früher hatte der eine oder andere Kamera oder Fotoapparat dabei. Aber er hätte sich niemals getraut, sie zu zücken, um Sterbende abzulichten.

Egal welche Technologie Sie nehmen, alle haben sie auch massive negative, vielfach tödliche Folgen. Warum kaprizieren Sie sich so auf das Smartphone?

Spitzer: In der Regel sind wir uns der Folgen neuer Technik bewußt. Wir wissen, wie problematisch industrielle Landwirtschaft, wie schädlich der Autoverkehr ist und daß die Industrie die Umwelt verschmutzt. Aber beim Smartphone ist uns das nicht klar. Es wirkt unschuldig, so harmlos, daß wir es ohne weiteres sogar kleinen Kindern in die Hände geben – wohin es definitiv nicht gehört! Und wenn ich kritisiere, daß Smartphones weltweit Millionen Tote verursachen, gegen die die Zahl der Lungenkrebsopfer durch Rauchen vergleichsweise klein ist, dann ernte ich Ungläubigkeit bis Empörung. Dabei ist das gut belegbar. Ich nenne als Beispiel nur einen Faktor von vielen: Bei den Verkehrstoten unter zwanzig hat das Smartphone den Alkohol als Unfallursache Nummer eins längst abgelöst. Das ganze Spektrum von Lebensbereichen, in denen Smartphones Todesopfer fordern, zeige ich in meinem Buch auf und daß  so weltweit viele Millionen zusammenkommen, wenn man die publizierten Zahlen ernst nimmt.

Sie sagen, vor allem schädigten Smartphones Kinder. Warum?

Spitzer: Weil Kinder noch in der Entwicklung sind. Und vor allem dann, wenn noch in Entwicklung befindliche Organe den negativen Einflüssen des Smartphones ausgesetzt sind, entstehen die größten Schäden. Ganz besonders davon betroffen ist das Gehirn, was inzwischen vielfach belegt ist. Etwa durch zwei neue Studien aus Kanada, eine durchgeführt in den USA an über 4.500 Kindern im Alter zwischen acht und elf Jahren: Sie zeigt eindeutig, daß der Gebrauch von Bildschirmmedien zu einer ungünstigeren kognitiven Entwicklung der Kinder führt. Das gleiche belegt auch die zweite Studie an knapp 2.500 Kindern von zwei bis fünf Jahren. Und schon im Jahr 2017 hat dies die große BLIKK-Studie bewiesen, die von deutschen Kinderärzten an knapp 6.000 Kindern durchgeführt worden war. 

Aber eben das zeigt doch, daß nicht das Smartphone per se das Problem ist, sondern nur dessen unregulierter Gebrauch, zum Beispiel durch Minderjährige. Wir geben Kindern ja auch keinen Alkohol, aber gegen ein Glas Rotwein für Erwachsene ist nichts einzuwenden. 

Spitzer: Stimmt, nur ist das auch das Argument der US-Waffenlobby: „Guns don’t kill, people kill“ Also: Nicht die Waffe, sondern der Schütze tötet. 

Das trifft ja auch zu; und muß man nicht differenzieren: Zigaretten etwa sind immer schädlich, Waffen – und auch Smartphones –, so sie verantwortungsbewußt gehandhabt werden, dagegen nicht. 

Spitzer: Es zeigt sich aber im Alltag, daß Kinder immer wieder an Waffen herankommen, weshalb man in den USA nun die Waffengesetze ändern will. Das ist der Punkt! An Smartphones gelangen Kinder andauernd, wir drücken sie ihnen ja permanent in die Hand. Und schon in Kindertagesstätten soll das jetzt unter dem Stichwort „Medienkompetenztraining“ flächendeckend geschehen. Es geht mir jedoch keineswegs darum, Smartphones zu verbieten und schon gar nicht will ich „zurück in den Urwald“, wie mir manche Gegner vorwerfen. Ich stelle aber fest, daß das Smartphone, das den Globus in nur zehn Jahren vollständig überzogen hat, gefährliche Auswirkungen hat, über die wir kaum nachdenken. Es hat beim Smartphone – anders als bei anderen Technologien – nie eine Technikfolgenabschätzung gegeben! Und das, obwohl kein anderes Gerät so tief in unser Leben eingreift und sogar Sucht erzeugen kann, was wissenschaftlich erwiesen ist. Schon sprechen wir von krankhaften Phänomenen wie „Fomo“ („Fear of missing out“), also der Angst, gerade jetzt etwas in der Welt der Sozialen Medien zu verpassen, weshalb man ständig mit dem Telefon online sein „muß“; oder von Nomophobie („No-Mobile-Phone-Phobia“), einem zwanghaften Unruhezustand, der sich besonders bei jungen Menschen einstellt, wenn sie ihr Smartphone nicht verfügbar haben. Und schließlich darf ich daran erinnern, daß Online-Spielsucht, die auch das Smartphone betrifft, seit 2018 sogar von der WHO als eine Krankheit anerkannt ist.

Aber ist dann nicht doch gerade eine möglichst frühe Förderung der Medienkompetenz unserer Kinder der richtige Weg?

Spitzer: Nein, gerade weil Smartphones für Kinder so schädlich sind, muß man dies strikt ablehnen! Niemals würden wir doch auf die Idee kommen, unseren Kindern möglichst früh Alkohol zu geben, um ihnen den Umgang damit beizubringen. Das wäre „anfixen“, wie man im Drogenmilieu sagt. Bei Smartphones aber wird immer wieder gesagt, daß wir genau das tun sollen. Noch einmal Klartext: Früher Kontakt mit digitalen Medien schadet der Gehirnentwicklung und führt zur Sucht. Deswegen ist die Forderung nach Medienkompetenztraining in Kindergarten und Grundschule verantwortungslos. Bei unseren Kindern muß es uns darum gehen, handfeste gesundheitliche Schäden zu vermeiden. 

Allerdings trifft doch Ihre Behauptung, die negativen Folgen der Smartphones würden ausgeblendet, nicht zu. Denn in den Feuilletons und Gesundheitsteilen der Zeitungen werden diese regelmäßig thematisiert.

Spitzer: Ganz und gar nicht. Wie kommen Sie denn darauf? 

Schlafprobleme durch blaues Monitorlicht, Streß und „Versklavung“ durch mobile Dauererreichbarkeit oder der Verlust der Privatsphäre und Totalüberwachung durch Mobiltelefone etwa sind überall Thema.

Spitzer: Ich halte dies für Ablenkungsmanöver von den wirklichen Grundproblemen. Deren tatsächliches Ausmaß, die ganze Breite der verheerenden Wirkungen, wird gerade nicht thematisiert. Haben Sie etwa jemals in den Medien etwas über die Gefahr der Kurzsichtigkeit durch Smartphones gelesen? Ich nicht. Nein, trotz „ein wenig Kritik am Rande“ ist im Mainstream das Gegenteil der Fall: Smartphones werden zum Inbegriff des erstrebenswerten Lifestyles erklärt, also verklärt und verharmlost. Jüngst etwa in der Süddeutschen Zeitung, wo ein Artikel mit der Überschrift „Smartphones werden als Krankmacher verteufelt. Dabei gibt es keine harten Beweise“ behauptete, ihre Nutzung sei für Jugendliche so harmlos wie „Kartoffeln zu essen“. Die dem Artikel zugrundeliegende Studie ist das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt ist, sie strotzt nur so von miserablen Daten, die obendrein in abenteuerlicher Weise interpretiert werden. Aber es heißt dann: Das ist so, denn es stand in der Süddeutschen! 

Zwar liest sich Ihr Buch überzeugend und Sie führen jede Menge Studien an. Dennoch erfahren Ihre Thesen auch Kritik – auch von Kollegen. Vorgeworfen wird Ihnen etwa „Alarmismus“, „Populismus“, eine Art Thilo Sarrazin zu sein, sowie Studien einseitig zu interpretieren. Wem soll man als Laie nun glauben?

Spitzer: Ich werde oft in irgendeine „Ecke“ gestellt, damit man sich nicht mit den Inhalten auseinandersetzen muß. „Herr Spitzer, es gibt Leute, die behaupten das Gegenteil dessen, was Sie sagen“, wird mir oft vorgehalten. Da entgegne ich immer dasselbe: Wer genau sagt was genau? Darüber können wir reden. Über Pauschalvorwürfe aber kann man gar nicht reden!

Vergangene Woche hat der Deutsche Bundestag den „Digitalpakt“ beschlossen, der die digitale Revolution nun in die Schulen bringen soll.

Spitzer: Furchtbar! Denn Computer in Schulen schaden nachweislich dem Lernen. Bereits 2012 wurde im Fachblatt Science publiziert, daß erstens mit E-Büchern weniger gelernt wird als mit klassischen Büchern und zweitens daß digitale Suchmaschinen wie Google zu weniger Lernen führen als die bisher verwendeten Quellen, also etwa Zeitungen, Zeitschriften und vor allem Bücher.

Aber Computer sind nun mal die Zukunft.  

Spitzer: Ich habe nichts gegen Programmieren als Unterrichtsfach. Aber beim Digitalpakt geht es um die Computerisierung des normalen Unterrichts! In meinem Buch zeige ich, daß Daten der OECD aus den PISA-Studien belegen: Staaten, die ihre Schulen stärker computerisiert haben, erzielten schlechtere Bildungsergebnisse als jene mit weniger Computern an Schulen. Das heißt also, daß wir nun fünf Milliarden Euro für einen Digitalpakt ausgeben – und zudem dafür das Grundgesetz geändert haben –, damit das Lernen an den Schulen abnimmt. Und obendrein den Bundesländern die Bildungshoheit genommen und faktisch an die fünf reichsten Firmen der Welt – Apple, Google, Microsoft, Amazon und Facebook – weitergegeben wird. Ich finde das unerträglich! 

Warum sieht die Politik das nicht? 

Spitzer: Weil sie natürlich selbst dem Bann des Zauberworts Digitalisierung verfallen ist und weil sie hofft, sich in dessen „Glanz“ sonnen zu können. Und weil die Digitalwirtschaft natürlich enormen Einfluß hat. Schauen Sie sich doch nur die gerade genannten fünf wertvollsten Unternehmen der Welt an. – Energielobby? Autolobby? Waffenlobby? Das sind dagegen eher nur Zwerge. 






Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer, der Wissenschaftler und Publizist ist Autor zahlreicher Bücher, darunter die Erfolgstitel „Vorsicht Bildschirm. Elektronische Medien, Gehirnentwicklung und Gesundheit“, „Cyberkrank. Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert“ sowie der Platz-eins-Bestseller „Digitale Demenz. Wie wir unsere Kinder um den Verstand bringen“. Bekannt wurde er zudem durch zahlreiche Interviews und Fernsehauftritte; kaum eine Talkrunde, in der er nicht schon zu Gast war. Spitzer, der im Bayerischen Fernsehen auch die Sendung „Geist und Gehirn“ moderierte, ist Leiter des Psychiatrischen Universitätsklinikums in Ulm und Inhaber des Lehrstuhls für Psychiatrie. Zwei Gastprofessuren in Harvard und ein Forschungsaufenthalt an der Universität Oregon prägten seinen Forschungsschwerpunkt im Grenzbereich der kognitiven Neurowissenschaft und Psychiatrie. Zuletzt erschienen 2018 aus seiner Feder: „Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit“ und „Die Smartphone-Epidemie. Gefahren für Gesundheit, Bildung und Gesellschaft“. Geboren wurde Manfred Spitzer 1958 in Lengfeld-Otzberg bei Darmstadt.

Foto: Lehrstuhlinhaber und Klinikleiter Spitzer: „Wenn ich kritisiere, daß die Zahl der Toten durch Smartphones weit größer ist als etwa die der Lungenkrebsopfer durch Rauchen, dann ernte ich Ungläubigkeit bis Empörung. Dabei ist das gut belegbar (…) In der Regel sind uns die Folgen neuer Techniken bewußt. Beim Smartphone jedoch sind sie uns dagegen nicht klar“   

 

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