© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/19 / 01. März 2019

Hinter den Kulissen der veränderten EZB-Geldpolitik
Zinspolitische Irrfahrt
Thorsten Polleit

Soll die Zentralbankpolitik einer Regelbindung unterworfen werden? Und wenn ja, wie soll solch eine Regel aussehen? Populär ist die „Taylor-Zinsregel“ geworden, benannt nach dem 72jährigen Stanford-Professor John B. Taylor. Mit ihr soll der „richtige“ Notenbankzins anhand von drei Faktoren ermittelt werden: dem gleichgewichtigen Realzins, dem Unterschied zwischen tatsächlicher und anvisierter Inflation sowie dem Auslastungsgrad der Volkswirtschaft. Die EZB hat lange Zeit ihren Leitzins annähernd so gesetzt.

Es gibt zwar viel zu kritisieren an der Taylor-Regel. Interessant ist jedoch, daß sie aktuell für den Euroraum einen Leitzins von knapp drei Prozent befürwortet, für Deutschland sogar von knapp vier Prozent, für Frankreich von knapp unter zwei Prozent, und für Italien wäre der Taylor-Zins sogar negativ: minus 0,4 Prozent. Die EZB macht allerdings keinerlei Anstalten, ihren Leitzins, der seit März 2016 auf der Nullinie verharrt, anzuheben. Warum nicht? Der Verdacht liegt nahe, daß die EZB-Räte den Zins nicht anheben wollen, Taylor-Zinsregel hin oder her, weil sie meinen, die Euro-Konjunktur und die finanziell überdehnten Staaten könnten keine höheren Kreditkosten verkraften.

Doch so ganz ohne wissenschaftlichen Begründungsanstrich will die EZB dabei nicht verfahren. Und den erhalten sie von den Ökonomen aus den Universitäten und den Geschäftsbanken frei Haus. In diesen Kreisen beruft man sich jüngst auf eine „angepaßte“ Taylor-Zinsregel, wie sie etwa der zypriotische Ex-Zentralbankchef und Professor des Massachusetts Institute of Technology, Athanasios Orphanides, bevorzugt. Und siehe da: Ihre Anwendung gibt eine Rechtfertigung, warum der EZB-Zins auf der Nullinie liegt. Damit lassen sich nun Vorhersagen oder Handlungsempfehlungen treffen: Im ersten Fall lautet der Schluß, daß die EZB den Leitzins 2019 nicht anheben wird; und im zweiten Fall, daß sie den Leitzins im laufenden Jahr nicht anzuheben braucht.

So einfach läßt sich – Hokuspokus – eine gewünschte Zinspolitik rechtfertigen: Der Zins, den man haben will, wird ganz einfach herbeikonstruiert. Nicht die Zinsregel bestimmt folglich die Geldpolitik, sondern es verhält sich umgekehrt: Die Geldpolitik bestimmt die Zinsregel. Wohin führt diese Selbstermächtigung? Dazu, daß die Null- und Negativzinsphase im Euroraum weitergeht. Sie kann zwar vorläufig die Euro-Kreditpyramide vor dem Einsturz bewahren. Aber gleichzeitig richten sie schwere Schäden an: Geld und Altersvorsorge werden entwertet, Fehlinvestitionen verursacht, die Wettbewerbs- und Wachstumskräfte lahmgelegt. Bürgern und Unternehmern wird die zinspolitische Irrfahrt der EZB, die sie auf Biegen und Brechen durchsetzt, noch sehr teuer zu stehen kommen.






Prof. Dr. Thorsten Polleit ist Volkswirtschaftler und Präsident des Mises-Instituts.

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