© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/19 / 01. März 2019

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Wer Daniel Barenboim je live erlebt hat, weiß um die Ausstrahlung des Star-Dirigenten. Wie kaum ein zweiter verkörpert er in seiner ganzen Attitüde einerseits Güte und Menschlichkeit im besten Wortsinne, andererseits ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein, Autorität und Macht – grenzenlose Macht. Und genau die werfen Kritiker jetzt dem 76jährigen Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper Unter den Linden und Dirigenten der Staatskapelle auf Lebenszeit nun vor. Barenboim soll Mitarbeiter und Orchestermusiker gedemütigt, beleidigt und sogar körperlich attackiert haben. Ein ehemaliger Paukist der Staatskapelle berichtet von Depressionen und Bluthochdruck, ein Posaunist von Schlafstörungen, ein Mitarbeiter der Staatsoper spricht von einer „Atmosphäre der Angst“. Auweia. Schlimm, schlimm. Daß die Vorwürfe just während laufender Vertragsverhandlungen Barenboims mit dem Berliner Senat erfolgen, ist sicher nur Zufall. Dabei gibt es über viele bedeutende Dirigenten der Geschichte solche Erzählungen. Die Wutausbrüche Arturo Toscaninis gelten als ebenso legendär wie die von Sergiu Celibidache. Hans Knappertsbusch, Otto Klemperer, der „Imperator“ Herbert von Karajan, Carlos Kleiber, der 2004 von seinen Berufskollegen zum „besten Dirigenten aller Zeiten“ gekürt wurde, Leonard Bernstein, Christian Thielemann – sie alle sind für ihr divenhaftes Verhalten berühmt-berüchtigt.


Wer heutzutage öffentlich wahrgenommen werden will, muß nur den Appendix „gegen Rechts“ verwenden. 


Wiederlektüre von Botho Strauß’ großartiger Gedankensammlung „Die Fehler des Kopisten“ (Hanser, 1997). Frappierend, wie der Autor damals, vor über zwanzig Jahren, gesellschaftliche Zustände beschrieben hat, die heute virulenter denn je sind. Drei Notate stechen besonders hervor: (1) „Verwahrlosung kommt aus der Mitte der Gesellschaft, nicht von den Rändern. Sie wird auf lange Sicht nur zunehmen. Man lebt dann mit unerträglichen Spannungen und unerträglichen Gleichgültigkeiten.“ (2) „Es ist auf verlorenem Posten möglich zu sehen, was die ‘Wächter der Demokratie’ in ihrer Mitte offenbar nicht sehen können: zwei Drittel Wüste das bewachte Gebiet.“ (3) „Was in unserer Mitte so vor sich geht, ist dazu angetan, die Geister unserer Ahnen zu vergnügen. Jeder Lebende amüsiert ein ausverkauftes Haus voll Toter. Sie setzen Preise aus für die größte Nichtigkeit und Nichtswürdigkeit des Tages, um die wir auf der Szene mit blutigem Ernst konkurrieren.“