© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/19 / 01. März 2019

Die Sehnsucht nach der alten Bundesrepublik
Der ZDF-Journalist Wolfgang Herles analysiert das von Merkel zerstörte Werk ihrer Vorgänger im Bundeskanzleramt
Thorsten Hinz

Der frühere ZDF-Journalist Wolfgang Herles hält Angela Merkel für ein Verhängnis. Sie habe „das Land kaputtgemacht“ und „nur Unheil angerichtet“, brach es im Februar bei Maischberger aus ihm heraus. Vor allem der Grenzöffnung galt sein Zorn. Wer mag ihm da widersprechen? Doch wie konnte die Kanzlerin ihr Zerstörungswerk im Rahmen eines formal demokratischen Systems in Gang setzen? In seinem Buch „Die neurotische Nation“ versucht Herles eine Antwort darauf. Es handelt sich um die überarbeitete und erweiterte Fassung des 2008 erschienenen Titels „Neurose D. Eine andere Geschichte Deutschlands“. Der neue Untertitel lautet: „Vom Wirtschaftswunder bis zur Willkommenskultur“.

Merkel habe die Gesellschaft entpolitisiert und dann durch „unüberlegte Handlungen gespalten, ohne von ihrer Partei oder vom Parlament oder von der Mehrheit der Wähler gehindert zu werden“. Sie ist Akteurin und zugleich Exponentin und Vollstreckerin einer kollektiven, neurotisch begründeten Fehlleistung. Neurosen sind psychische Störungen, die auf falsch oder unverarbeitete Traumata zurückgehen und sich in einem anomalen Verhältnis zur Realität, in Zwangshandlungen, Angst, Reizbarkeit, in fehlender Selbstsicherheit äußern. Herles nennt die deutsche Gesellschaft außerdem „schizoid“, weil sie über keine politische Führung verfügt, die Kompetenz, Entschlußkraft und Sicherheit vermittelt.

Den Auslöser für den Niedergang sieht er in der Abkehr von der „Bonner Republik“. Die „alte“ – westdeutsche – Bundesrepublik nennt er das „Resultat einer gelungenen Therapie“, wobei „die Teilung selbst (…) keine Nebenwirkung, sondern Voraussetzung der Heilung“ gewesen sei. Mit „Heilung“ meint er die Überwindung der „nationalistischen Geistesverwirrung“ (die im Nationalsozialismus kulminierte), die Hinwendung zum Verfassungspatriotismus, die Versachlichung der Politik, die Verwestlichung. Die Ehe mit der kleinen, gescheiterten DDR, die 1990 hingebungsvoll in die Arme der Bundesrepublik getaumelt war, soll es vermocht haben, den Heilungsprozeß wieder umzukehren. Herles bietet dafür keine stringente Erklärung, aber es wird deutlich, worauf er hinauswill. 

Gründungskanzler Adenauer, den er hoch schätzt, konnte demnach seine richtigen Einsichten nicht mit der nötigen Konsequenz umsetzen. Um die Deutschen für die Demokratie und die Westbindung zu gewinnen, hätte er sie mit dem Zuckerbrot des wuchernden Sozialstaates korrumpiert und ihnen falsche politische Versprechungen offeriert: die Aussicht auf die Wiedervereinigung und die Rückgewinnung der Ostgebiete, von denen er wußte, daß sie unwiederbringlich verloren waren. Zumindest am Wiedervereinigungsgebot hielten seine Nachfolger fest. 

So konnte das Gespenst der nationalistischen Lebenslüge durch die sonst propere Bundesrepublik weiter wandeln und 1989/90 wieder auferstehen. Die Bonner Auf- und Abgeklärtheit, die Entromantisierung der Politik und die vorbildliche Bewältigung der NS-Vergangenheit wurden ersetzt durch eine neurotische Einheit aus Schuld- und moralischem Überlegenheitsgefühl. Es sei das Pech der Bundesrepublik gewesen, daß am Ende des 20. Jahrhunderts noch eine Politikergeneration bestimmend war, „deren Geschichtsbild tief im 19. Jahrhundert (wurzelte)“. Zum Trauma des Dritten Reiches sei für viele Westdeutschen ein BRD-Verlusttrauma getreten. Denn „dieser Staat versöhnte sie mit ihrer Geschichte und führte sie in eine glänzende Zukunft“. Der damals jungen Generation – zu der auch der 1950 geborene Autor sich rechnet – habe „der Nationalstaat nicht zu ihrem Glück“ gefehlt. 

Bestandssicherung, nicht Selbstaufgabe 

Das Glück sei ihr gegönnt. Nur weckt Herles’ Darstellung große Zweifel, daß sie sich über seine politisch-historischen Voraussetzungen je im klaren war. Der Bundesrepublik fehlte, wie SPD-Vordenker Carlo Schmid 1948 vor dem Parlamentarischen Rat ausführte, im Ursprung „die Gesamtentscheidung eines freien Volkes über die Formen und die Inhalte seiner politischen Existenz“. Der Weststaat würde „unter Fremdherrschaft“ stehen, denn er organisierte sich „unter deren Anerkennung (…) vielleicht sehr staatsähnlich, aber nicht als Staat im demokratischen Sinn“. Diese Konstellation als unwiderruflich und legitim hinzunehmen, hätte von vornherein die Anerkennung materieller und moralischer Degradierung und die Internalisierung einer neurotischen Negatividentität bedeutet. Das Bestehen auf der Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches und die Orientierung auf die Wiedervereinigung bildeten den symbolischen Bezugspunkt, der über den fremdbestimmten Anfang hinauswies und damit eine Chance der politischen und moralischen Selbstbehauptung eröffnete.

Man muß Adenauer gegen seinen Bewunderer Herles in Schutz nehmen. Für ihn hatte die Westbindung Vorrang auch in der Erkenntnis, daß Freiheit für die 18 Millionen Deutschen in der DDR nur erreicht werden konnte, wenn die 52 Millionen im Westen nicht kommunistisch wurden. Sein politisches Konzept läßt sich im Sinne von Ernst Troeltsch verstehen, der nach dem Ersten Weltkrieg die Deutschen in seinen „Spectatorbriefen“ aufgefordert hatte, die durch die Kriegsniederlage offenbarte „Sachlage“ – die angelsächsische Dominanz in der Welt und in Europa – anzuerkennen und sich ihr anzupassen: allerdings zum Zweck der Bestandssicherung, nicht der Selbstaufgabe! 

Die Fähigkeit, das aktuell Mögliche vom Unmöglichen zu unterscheiden und sich gleichzeitig für dessen Eventualität bereitzubehalten, läßt den Rheinländer und Preußenfeind Adenauer nachgerade als realpolitischen Bismarckianer erscheinen. Wie sehr ihn das Ziel der Gleichrangigkeit Deutschlands beschäftigte, zeigte sich in der Ablehnung des Atomwaffensperrvertrags, den er zwei Monate vor seinem Tod einen „Morgenthauplan im Quadrat“ nannte. Herles versteht die dahinterstehende Überlegung nicht, er hält sie für den Ausbruch von Senilität.

Das Politische verschob sich auf das Feld der Moral

Herles’ Blick ist ein nostalgischer, kein historischer. Auch Ernst Nolte hatte 1974 in dem Buch „Deutschland und der Kalte Krieg“ die „Anerkennung der Bundesrepublik durch sich selbst“ gefordert, weil er meinte, daß die Fixierung auf ein nach menschlichem Ermessen unrealistisches Ziel die Gesellschaft nach innen wie außen blockierte. 1992 erläuterte er seine damalige Überlegung. Angesichts des atomar aufgeladenen Systemkonflikts zwischen Ost und West hätte ein „‘transzendentales Interesse der Menschheit’ den Verzicht der Deutschen auf die Durchsetzung (!) ihres nationalen Selbstbestimmungsrechts (verlangt), ohne daß es dadurch als solches zum Erlöschen gebracht“ worden wäre. 1989/90 war der Ost-West-Konflikt zu Ende, das Menschheitsinteresse an der Teilung erloschen, ihre innerdeutschen Rationalisierungen obsolet.

Die Lage wurde ausgerechnet von den Politikern, die Herles für anachronistisch hält, klarer erkannt als von den sich fortschrittlich dünkenden Teilen der Öffentlichkeit, die 1989/90 ihren BRD-Patriotismus entdeckten. An ihren Reaktionen ließ sich ablesen, daß die eingehegte Bundesrepublik weder ein gesundeter Patient noch eine pädagogische Provinz, sondern ein Treibhaus war, in dem der Moralismus gedieh und das politische Denken verkümmerte. 

Es handelt sich um eine nachgeholte Selbstdegradierung, die eng mit der alliierten „Reeducation“ und der Vergangenheitsbewältigung zusammenhängt. Die setzte ein, als die Bundesrepublik mit dem Sputnik-Schock von 1957, der Berlin-Krise und dem Mauerbau außenpolitisch schwer unter Druck geriet und sich abzeichnete, daß ihre und die Interessen der Verbündeten divergierten. Eine überforderte, unter dem Eindruck atomarer Drohungen des russischen Parteichefs Chruschtschow panisch gewordene Öffentlichkeit verlegte das Politische auf das Feld der Moral. Sie versuchte Schonung zu erlangen, indem sie der Welt mit antifaschistischem Exorzismus und Selbstgeißelungen ihre Harmlosigkeit und ihr nationales Desinteresse – vulgo: Negatividentität – demonstrierte. Das war die Geburtsstunde der Hypermoral, aus der nach der Wiedervereinigung die Hypergesetzlichkeit erwuchs, durch die Merkel, die „von Hamburg in die DDR verschleppte Pastorentochter“ (Herles), sich zur Grenzöffnung ermächtigt fühlte. Ihre Kanzlerschaft symbolisiert nicht „die Vollendung der Einheit“, sondern die Vollendung einer neurotischen „alten“ Bundesrepublik, welche die Chancen, die ihrem Anfang innewohnten, verschenkt hat. Die Melange aus Hypermoral und politischer Absenz dürfte zum politischen Kalkül externer Kräfte gehören und Führung anderweitig stattfinden.

So sehr man Wolfgang Herles’ Zorn über das kaputtgemachte Land nachvollzieht, so fruchtlos ist sein Erklärungsansatz und illusionär seine Verklärung der „Bonner Republik“. Sein Buch stiftet damit mehr Verwirrung als Orientierung in der allgemeinen Idiotie.

Wolfgang Herles: Die neurotische Nation. Die Bundesrepublik vom Wirtschaftswunder bis zur Willkommenskultur. FinanzBuch Verlag, München 2018, gebunden, 320 Seiten, 22,99 Euro