© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/19 / 01. März 2019

Das Wegmachen des Gemachten
Was tun mit unserem wachsenden Müllberg? Nicht kaufen, reduzieren und wiederverwenden helfen
Christoph Keller

Eine Wirklichkeit, die nicht auf einen Begriff gebracht wird, von der hat menschliches Bewußtsein keine Vorstellung. So taucht der Terminus Müll erst im späten 19. Jahrhundert im Sprachgebrauch auf und benennt damit ein Phänomen, das erstmals auch als Problem erscheint. Das „Brockhaus’ Conversations-Lexikon“ von 1898 versteht darunter nur „Kehricht“, Haus- und Straßenmüll, bestehend aus Asche, Küchenabfällen, Lumpen, tierischen Exkrementen. Deren Beseitigung oblag in vielen Städten der im Aufbau befindlichen Müllabfuhr. Unangenehm war diese Art von Abfall allein wegen der geruchsintensiven „Fäulnis“ auf den „Müllkippen“ jenseits der Vorstädte.

Europameister beim  Verpackungsabfall

Die große Masse dessen hingegen, was in Industrie, Landwirtschaft, Haushalt „abfiel“, faßte die zeitgenössische Wahrnehmung nicht als Müll auf. Denn um 1900 war im Kaiserreich Alltag, was ein bundesdeutsches Gesetz erst 2012 als „Kreislaufwirtschaft“ regelt. Heike Weber, Professorin für Technikkulturwissenschaft am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), erinnert daran, daß das Gros dessen, was damals übrigblieb, wiederverwertet worden ist. Landwirte fuhren Müll als Dung ab, das Netz des Lumpen- und Altstoffhandels absorbierte Massen von „Sperrstoffen“.

Dieser „Rohprodukthandel“ habe wesentliche Teile des Haus- und Gewerbemülls verwertet und eine derartig hochgradige Differenzierung beim Sortieren erreicht, daß er „das heutige Recycling leicht in den Schatten stellt“, weil er mehrere hundert Sorten Lumpen und heute kaum vorstellbare 70 Sorten Altpapier unterschied. Mülltrennung ist also keine Erfindung grüner Ökopolitik.

Auch die Industrie betrieb Reste-Ökonomie. Die Abfallverwertung erschloß dort neue Wirtschaftszweige, etwa die Teerchemie oder die Produktion von Thomasmehl, die Schlacken der Stahlerzeugung verwertete. Vor dem Einsatz des Holzschliffs um 1890 bildeten Lumpen den Ausgangsstoff der Papierindustrie. Chemische Halbfabrikate wie Glycerin, Stearin und Knochenasche wurden aus Tierknochen und anderen tierischen Abfällen gewonnen. Eine „Knochenindustrie“ habe es im Deutschen Reich noch den 1930ern gegeben.

Dieser halbwegs umweltschonende Müll-Kreislauf stieß aber nach dem Zweiten Weltkrieg an seine Grenzen, als Massenkonsum zum explosiven Anstieg der Extraktions- und Emissionsmengen führte. Zudem wurden Abfälle in stofflicher Hinsicht komplexer. Dienten vor 1945 vornehmlich Papier, Holz, Blech und Leinensäcke dem Warentransport, begann mit dem zunehmenden Erdölimport der Siegeszug der Plastikverpackungen – und damit die „Chemisierung des Alltags“, einhergehend mit der Toxizität des Zivilisationsmülls.

Schwermetalle aus Farbresten oder Batterien, so führt Weber aus, hätten schon in den 1970ern das Kompostieren des Hausmülls behindert. Zudem tauchten neue Abfallsorten auf: Elektronikschrott, Medikamente, Kosmetika, Haushaltsreiniger. Nicht nur die zunehmende Komplexität forderte die technologisch aufrüstende, vom traditionellen Deponieren zum Verbrennen übergehende Abfallwirtschaft heraus, auch die Mengen erreichten schwer zu bewältigende Höchststände. Um 1900 hinterließ ein reichsdeutscher Stadtbewohner jährlich 180 Kilo Müll.

Ein Durchschnittswert, der noch zu Beginn der 1960er Jahre (200 Kilo) kaum überschritten wurde. Heute „produziert“ der Bundesbürger pro Jahr und Kopf 565 Kilo, wovon 220 Kilo auf Verpackungen entfallen. Damit besetzen die Deutschen, die sich gern als ökologische Musterschüler und Lehrmeister aufführen, allein beim Verpackungsabfall den europäischen Spitzenplatz.

Welche Konsequenzen die „Chemisierung des Alltags“ für die als „Müllhalden“ über scheinbar unendliche Aufnahmekapazitäten verfügenden Weltmeere hat, beschreibt Jörn Bohlmann, bis 2018 Kurator für Schiffahrt und Meerestechnik am Deutschen Museum in München. Sein Beitrag, wie der Webers erschienen im Museumsorgan Kultur & Technik (1/19), das sich dem Thema „Entsorgung als Herausforderung des 20. und 21. Jahrhunderts“ widmet, korrigiert den germanozentrisch verengten „grünen“ Tunnelblick auf die globale Umweltlage und wirkt insbesondere abkühlend auf die augenblickliche Hysterie in Sachen Diesel, Feinstaub, Kohle.

Auf einem globalen Nebenkriegsschauplatz

60.000 Schiffe bewegen auf den Ozeanen und Binnenmeeren 90 Prozent des internationalen Welthandels, mit jährlich neun Milliarden Tonnen Fracht. Alle diese Schiffe werden mit dem stark schwefelhaltigen Schweröl betrieben. Weil die Verbrennungsmotoren dieser bis zu 400 Meter langen und 50 Meter breiten Stahlgiganten richtig gefräßig sind, setzen allein die fünfzehn größten unter ihnen jährlich so viel giftige Schwefeloxide frei wie alle Automobile dieser Welt zusammen – und das sind derzeit 750 Millionen von „Klimaschützern“ ins Visier genommene rollende Blechbüchsen. Da im Rechenbeispiel des gelernten Holzbootsbauers jedoch noch 59.985 Schiffe „übrig“ sind, von denen hundert sogar nur unwesentlich kleinere Abmessungen aufweisen als die größten fünfzehn, empört es Bohlmann, daß die Belastungen durch den See- wie auch den Luftverkehr im Klimawandel-Diskurs und in internationalen Regelungen zum Schutz der Erdatmosphäre „systematisch ausgeblendet“ würden.

Überhaupt ist es gerade Bohlmanns Aufsatz, der beklemmender noch als ihm folgende Darstellungen anderer Aspekte der globalen Müll-Malaise – etwa die Beiträge zu den Defiziten bei der nach Westafrika ausgelagerten deutschen Elektroschrott-Entsorgung (JF 27/16) und zu den 17.000 Tonnen Atommüll, die hierzulande nach dem politisch gewollten Abschalten des letzten AKW dann nur mit Hilfe ausländischer Technologie beherrschbar sein werden. Das nährt zu Recht den Verdacht, daß die deutsche Umweltpolitik, mit ihren Schwerpunktfronten gegen Verbrennungsmotor und Braunkohle, auf einem globalen Nebenkriegsschauplatz kämpft.

So entgingen Schiffe hierzulande nicht nur als die schlimmsten Luftverpester öffentlicher Aufmerksamkeit. Auch deren Beseitigung, auf den Abwrackstränden in Indien, Pakistan und Bangladesch, kümmere das ökologische Gewissen europäischer Umweltaktivisten eher nicht. An fernen Gestaden zerlegen Schneidbrenner jährlich 1.000 Handelsschiffe, 2016 befanden sich darunter 98 Schiffe deutscher Reedereien. Schiffsverschrottung, die an keine Arbeits-, Umwelt- und Sicherheitsstandards gebunden ist. Allein in Bangladesch sollen dabei bis 2030 etwa 79.000 Tonnen Asbest, 240.000 PBC, 210.000 Tonnen ozonschädigende Substanzen anfallen. Wohin zu entsorgen? „Naive Frage“ – ins Meer natürlich.

Da Bohlmann solche katastrophalen Zustände, zu denen er regelmäßige Öl-Unfälle auf hoher See, verklappte Fanggeräte („Geisternetze“), Mikroplastik und Überfischung addiert, letztlich etwas monokausal auf den Ressourcen verschwendenden Lebensstil im globalen Norden reduziert, läuft sein Mantra auf eine radikale Änderung unseres Konsumverhaltens hinaus: „Ablehnen (nicht kaufen), Reduzieren, Wiederverwenden, Verwerten“.

Museumsmagazin „Kultur & Technik“ (1/19):  deutsches-museum.de

Publikationen von Prof. Dr. Heike Weber:  www.geschichte.kit.edu