© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/19 / 08. März 2019

Hals über Kopf abgeschoben
Terrorismus: Hatte der Weihnachtsmarkt-Attentäter Anis Amri einen Komplizen? Medienberichte zum Fall des Tunesiers Bilel Ben Ammar werfen neue Fragen auf
Peter Möller

Um aus Deutschland abgeschoben zu werden, muß sich ein Ausländer in der Regel sehr ungeschickt anstellen. Die anhaltend niedrige Zahl von Abschiebungen zeigt: Es ist die Ausnahme und nicht die Regel, daß ausreisepflichtige Ausländer von den Behörden gezwungen werden, Deutschland wieder zu verlassen. Um so erstaunlicher ist der Fall des 28 Jahre alten Bilel Ben Ammar. Der Tunesier wurde am 1. Februar 2017 Hals über Kopf abgeschoben. Zuvor hatte ein Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge laut Focus die Bundespolizei in einer E-Mail sogar noch darauf hingewiesen, daß Sicherheitsbehörden und das Bundesinnenministerium ein „erhebliches Interesse“ an der Abschiebung hätten. Als wäre das nicht ungewöhnlich genug, berichtete das Nachrichtenmagazin über weitere angebliche Details, die – wenn sie denn zutreffen – erheblichen innenpolitischen Sprengstoff bergen.

Denn Bilel Ben Ammar ist nicht irgendein abgelehnter Asylbewerber, sondern ein enger Vertrauter des Attentäters vom Berliner Breitscheidplatz, Anis Amri. Noch am Abend bevor Amri am 19. Dezember 2016 mit einem Lkw auf dem Weihnachtsmarkt an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zwölf Menschen tötete, traf er sich mit Ammar zum Essen. Am folgenden Tag telefonierten die beiden miteinander – wenige Stunden vor dem Anschlag. Dadurch gerät die Einzeltäter-These ins Wanken, und die Frage stellt sich: War Ammar in die Anschlagspläne eingeweiht? Und wollten die Behörden durch die schnelle Abschiebung von ihrem Versagen im Vorfeld des Anschlages ablenken? Weiteres brisantes Detail in dem Artikel: Ein von den Behörden unter Verschluß gehaltenes Video einer Überwachungskamera am Breitscheidplatz nach dem Anschlag zeige einen Mann, dem laut Focus von den Ermittlern eine Ähnlichkeit mit Ammar attestiert wird. War Ammar also sogar am Tatort? Mehr noch: Unter Verweis auf Quellen in den Sicherheitsbehörden berichtet das Magazin weiter, Ammar sei möglicherweise ein Agent des marokkanischen Geheimdienstes.

Für wie brisant das Innenministerium den Bericht hielt, zeigt ein 13seitiger „Bericht über die Untersuchung des Bilel Ben Ammar“, den Seehofer Ende vergangener Woche präsentierte. Darin versucht das Ministerium den Eindruck einer spontanen und überhasteten Abschiebung zu zerstreuen. Ben Ammar sei seit dem 14. Januar 2017 vollziehbar ausreisepflichtig gewesen, und die zuständige Ausländerbehörde sei verpflichtet gewesen, dies auch umzusetzen. Zu jeder Zeit habe das Interesse an der Aufklärung des Anschlags auf den Breitscheidplatz im Vordergrund gestanden. Doch die Vernehmungen Ben Ammars hätten keinen Hinweis darauf gegeben, daß er zur weiteren Aufklärung des Anschlages hätte beitragen können. Die Abschiebung sei im Einvernehmen mit den zuständigen Strafverfolgungsbehörden erfolgt.

„Regierung muß wilde    Spekulationen unterbinden“

Die These, Ammar arbeite für den marokkanischen Geheimdienst, weist das Innenministerium mit Verweis auf das Bundeskriminalamt, den Verfassungsschutz und den Bundesnachrichtendienst zurück. Davon unabhängig wird es in Sicherheitskreisen als äußerst unwahrscheinlich angesehen, daß ein marokkanischer Geheimdienst ausgerechnet einen Tunesier als V-Mann anheuern würde. Auch dem Bericht des Focus, Ben Ammar sei auf einem bislang unveröffentlichten Überwachungsvideo vom Tatort zu sehen, wird in dem Bericht des Innenministeriums widersprochen. „Vom Tatgeschehen bestehen Videoaufnahmen aus größerer Entfernung. Eine Identifizierung von Personen ist aufgrund dessen nicht möglich“, versichert Seehofers Haus. Für weitere Fragen verwies Seehofer auf seinen Amtsvorgänger Thomas de Maizière (CDU), der damals zuständig gewesen sei. Doch der Ex-Minister mag sich dazu nicht äußern.

Seehofers Entlastungsangriff hat nicht alle Experten überzeugt. Der Obfrau der AfD-Fraktion im Amri-Untersuchungsausschuß, Beatrix von Storch, ist der ganze Fall suspekt. „Warum können Hunderttausende Ausreisepflichtige nicht abgeschoben werden, aber bei dem wichtigsten Zeugen und gegebenenfalls Mittäter, aber auf jeden Fall dem engsten Vertrauten des Attentäters Amri geht das  plötzlich in Windeseile“, sagte sie der JUNGEN FREIHEIT. Es sei zudem schlicht unglaubwürdig, daß ganze zwei Vernehmungen durch die Behörden die zentrale (noch lebende) Figur als unergiebigen Zeugen und Unbeteiligten entlastet haben sollen. „Auch nach Seehofers Statement kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Bundesregierung mit der sofortigen Abschiebung Ben Ammars irgend etwas aktiv vertuschen wollte. Die Regierung ist gehalten, hier zügig lückenlos aufzuklären, um das verlorengegangene Vertrauen wiederherzustellen und das Entstehen von wilden Spekulationen zu unterbinden“, forderte die AfD-Bundestagsabgeordnete.

Weitere Aufklärung könnte womöglich eine Vernehmung Ammars vor dem Amri-Untersuchungsausschuß bringen, wie sie bereits von den Grünen und der Linkspartei gefordert wird. Vielleicht könnte dann auch ein weiteres rätselhaftes Detail geklärt werden, über das der Focus Anfang der Woche berichtete: Demnach war Ammar laut Erkenntnissen des französischen Geheimdienstes am 14. Juli 2016 in Nizza – dem Tag, an dem ein islamistischer Terrorist mit einem Lastwagen 86 Menschen ermordete. Daß Ammar vor den Bundestagsabgeordneten  erscheinen würde, gilt in Berlin allerdings als äußerst unwahrscheinlich.