© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/19 / 08. März 2019

Zweite Chance für die westlichen Reformer
Parlamentswahl in Estland: Die nationale Konservative Volkspartei EKRE konnte ihre Stimmzahl verdoppeln, doch keiner will mit ihr koalieren
Paul Leonhard

Die prowestliche Reformpartei ist wie vier Jahre zuvor der Gewinner der Parlamentswahl in Estland. Allerdings war sie aus der Opposition angetreten, da ein Mißtrauensvorum während der Legislaturperiode zwischenzeitlich die Zentrumspartei an die Macht gebracht hatte, die am vergangenen Sonntag  prompt abgewählt wurde. 

Offenbar ist es dem bisherigen Regierungschef Jüri Ratas trotz hervorragender persönlicher Umfragewerte nicht gelungen, neue Wählerschichten vom neuen Kurs seiner bisher auf die Interessen der russischsprachigen Minderheit ausgerichteten Partei zu überzeugen. Verschreckt haben dürften einige Wählerschichten auch die von Ratas neu eingeführten vorsichtigen Besteuerungen. So konnte die als wirtschaftsliberal geltende Reformpartei den Sieg einfahren und dabei in der Wählergunst von 27,7 Prozent 2015 auf  rund 29 Prozent zulegen. Sie versprach im Wahlkampf Investitionen in den Bildungssektor, mehr Digitalisierung, niedrige Steuern und eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit estnischer Firmen im Ausland und ein aggressiveres Durchsetzen der estnischen Sprache, auch in der Schulpolitik. 

Die Zentrumspartei erhielt 23 Prozent. Dritte Kraft wurde die nationale Estnische Konservative Volkspartei (EKRE). Sie kontte im Vergleich zur Wahl 2014 ihren Stimmenanteil verdoppeln und kommt nun auf 17,8 Prozent. Die aus einer Protestbewegung neu entstandene Partei „Estland 200“, die als liberal-konservativ eingeschätzt wird, scheiterte dagegen mit 4,4 Prozent überraschend an der Fünfprozenthürde.

Schwierige Regierungsbildung

Spannend bleibt, ob sich Parteichefin und Spitzenkandidatin Kaja Kallas, bisher als Europaabgeordnete aktiv und Tochter des ehemaligen EU-Kommissars Siim Kallas, bei der Regierungsbildung für eine Große Koalition mit der Zentrumspartei entscheidet oder erneut ein Bündnis mit den kleineren Partnern schmiedet. In Frage kämen wie bisher die Sozialdemokraten (SDE, 9,8 Prozent), das konservative Wahlbündnis Pro-Patria- und Res-Publica-Union (Isamaa, 11,4 Prozent). 

Verhandlungen mit der europa- und zuwanderungskritischen EKRE hatte die 41jährige Kallas bereits im Vorfeld abgelehnt. Die von dem 69jährigen Historiker und ehemaligen Moskauer Botschafter Mart Helme geführte Partei hatte im Wahlkampf gegen die undemokratische Zentralisierung der Staatsführung, Monopolisierung der Medien, korrupte Kartellpolitik, Rezession gewettert und vor einem Zuzug von Ausländern im Zuge der EU-Migrationspolitik gewarnt. Von dem Politologen Tonis Saarts wurde die EKRE mit der deutschen AfD und Marine Le Pens Rassemblement National verglichen. 

Mit Ausnahme der EKRE behalte sie „alle Koalitionsoptionen auf dem Tisch“, sagte die Juristin Kallas im estnischen Fernsehen. Die Verhandlungen würden gerade erst beginnen. Die Spitzenpolitikerin verwies darauf, daß es mit der Zentrumspartei große Differenzen bei den Themen Steuern, Staatsbürgerschaftsrecht und Bildung gebe.

Die Reformpartei verfügt künftig über 34 der 101 Sitze im estnischen Parlament, die Zentrumspartei erhält 26, die EKRE 19, die Ismaa zwölf und die Sozialdemokraten zehn. Bei einer Wahlbeteiligung von rund 63 Prozent haben fast 275.000 Esten die Möglichkeit des E-Votings genutzt.