© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/19 / 08. März 2019

Pankraz,
F. Sarr und der Traum von Afrotopia

Aus Afrika ist der Urmensch einst ausgewandert, um sich die Erde untertan zu machen – sagen die Paläontologen. Nach Afrika wird der moderne Mensch demnächst zurückkehren, um die Erde zu retten – sagt der senegalesische Ökonomieprofessor und Jazzmusiker Felwine Sarr (46) in seinem soeben auf deutsch erschienenen Buch „Afrotopia“ (aus dem Französischen von Max Henninger, Matthes & Seitz, Berlin 2019, gebunden, 176 Seiten, 20 Euro). Der Titel klingt interessant, reizt zum Nachsehen. Und die Lektüre lohnt sich durchaus. Eine gründliche Diskussion wird wohl fällig.

Felwine Sarr war (neben Bénédicte Savoy) einer der beiden Autoren, die kürzlich den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron dringend aufforderten, die einst von Paris „geraubten“ Kunstschätze unverzüglich an die diversen westafrikanischen Staaten zu restituieren. Da ging es also  um Rückkehr im genauen Sinne des Wortes. Die in „Afrotopia“ prognostizierte Rückkehr der Menschheit nach Afrika ist natürlich eher metaphorisch gemeint. Die vom „modernen Kapitalismus“ bedrohten Völker sollten, empfiehlt Sarr, den „afrikanischen Geist“ als Antidot gegen diesen einsetzen.

Er spricht sogar von einer „Afrikanischen Kulturrevolution“. Die sollte endlich an die Stelle der so vielfach kläglich gescheiterten Kulturrevolutionen europäischen oder „weißen“ Ursprungs treten. Die westliche Lebensweise, konstatiert der Professor aus dem Senegal, wirke ja, wie immer klarer zutage trete, weltweit verhängnisvoll und zerstörerisch. Allenthalben nur noch Drang zu technischer Optimierung und rücksichtsloser Ausbeutung der Ressourcen, begleitet von Selbstvergessenheit und überheblichem Spott über  tief eingewurzelte Traditionen und ihr Weiterexistieren bei „farbigen“ Völkern.


Dagegen helfe nur noch   „Afrotopia“, nämlich die mit allen Kräften der Seele betriebene Erhaltung und Frischhaltung  geistiger, gleichwohl naturnaher und traditionsumwehter Bestände, ohne dabei freilich je den lebendigen, gleichwohl stets kritischen Kontakt mit der Moderne zu verleugnen, ihn vielmehr neu zu bedenken. Wir, die Einheimischen des „dunklen Erdteils“, können das möglicherweise besser als Auswanderer in hellere Regionen, legt Sarr nahe. „Die afrikanische Kulturrevolution bietet auch für den Rest des Planeten dringend benötigte Ansätze, um eine bewußtere und würdevollere Zivilisation zu begründen.“

Nun, sein Wort in Gottes Ohr, kann man da nur wünschen. Aber Pankraz kann sich eigentlich nicht vorstellen, daß ein Auswanderer, der nach neuartiger Wärme und Geborgenheit sucht, eine Entdeckung aus ökologischen Gründen nur halb erforscht und nur zu einem Drittel nutzt. Man will nachsehen, was wirklich in einer Sache steckt und wozu sie wirklich taugt. Dieser Forschertrieb ist schon im höheren Tierreich lebendig; zur Menschennatur gehört er einfach dazu. Dasselbe gilt für den Gewinntrieb, die Gier nach dem Mehrwert. Nur dieser schafft Freiheit, befreit uns partiell von den Notwendigkeiten des Überlebenmüssens. 

Nicht zuletzt deshalb, des Entdeckertriebs und des Gewinntriebs wegen, sind ja Urmenschen aus Afrika ausgewandert. Zweifellos gibt es heute in der Moderne gute Gründe, von letzten, unheilhaltigen Möglichkeiten dieser Urtriebe die Finger zu lassen und lieber darüber nachzudenken, was man gegen sie (entfesselte KI beim Entdeckertrieb, Raubtierkapitalimus beim Gewinntrieb) tun sollte – aber selbstverständlich muß solches Nachdenken auf höchstem Niveau und ohne jegliches Ressentiment stattfinden. Die Erfahrung der Auswanderer ist primär gefragt, nicht die bloßen Beobachtungen der Daheimgebliebenen.

Insofern ist man beinahe versucht, dem kecken Herrn Professor Sarr seine Kompetenz ein bißchen abzusprechen. Sollte er nicht erst einmal für etwas mehr Licht auf höchst bedenkliche Zusände  in seiner näheren Umgebung auf dem „Dunklen  Kontinent“ sorgen, bevor er diesen dunklen Kontinent als gloriosen Lichtmacher für weit  entfernte Welten lobt? Mehr Licht könnte etwa die Tatsache vertragen, daß viele afrikanische Staaten sehr reich sind an Rohstoffen und anderen Naturschätzen – und trotzdem von skrupellosen  Stammescliquen um des eigenen Profits willen künstlich arm und bildungslos gehalten werden.


In 35 Jahren, so seriöse Demographen, wird fast ein Drittel der Weltbevölkerung in Afrika leben, und zwar auf dem schlimmsten Armutsniveau, das überhaupt denkbar ist. Es werden sich daraus afrikanische  Flüchtlingsströme formieren, deren Angehörige keineswegs aus erkenntnisdurstigen Wissenschaftlern oder investitionsfreudigen Unternehmerpersönlichkeiten bestehen und sich eifrig in das Leben des Gastvolkes einfügen, sondern einzig aus Menschen, die alimentiert werden und auf Kosten der Gastvölker leben wollen. Professor Sarr wäre wahrscheinlich sehr einsam unter ihnen. 

Seine Rede von „Afrotopia“  als dem Namen des von ihm erträumten Landes, welches durch das pure Walten des afrikanischen Geistes von technologischen und kapitalistischen Verformungern frei sein werde,  zeigt übrigens zusätzlich – unfreiwillig nstürlich –, auf welch haltlosem Sand das ganze Projekt „Dunkler Kontinent“ aufgebaut ist. Das Wort knüpft an  „Utopia“ an, und das heißt bekanntlich „Land Nirgendwo“ und wurde schon in Kommunistenzeiten von Systemgegnern oft zur Kennzeichnung neuer, von der Partei errichteter Staaten benutzt. Man sprach von Utopie und meinte Tyrannei.

Auch in der Science-fiction-Literatur kamen früher oft „Utopien“ vor, das waren von irgendwelchen Ideologen oder vermeintlichen Menschenfreunden ausgedachte „reine Geistesstaaten“, wo nichts dem Zufall überlassen bleibt, alles sorgfältigst geplant wird. Im heutigen  Literaturbetrieb spricht man in solchen Fällen nicht mehr von Utopien, sondern von „Dystopien“ im Sinne von gescheiterten Staaten. Gottlob gibt es das von Felwine Sarr erdachte „Afrotopia“ noch nicht einmal in der Science-fiction-Literatur.