© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/19 / 08. März 2019

Der Flaneur
Was tun mit 360 Eiern?
Paul Leonhard

Es ist eine dieser Familienfeiern, bei der schon meine Anwesenheit das Durchschnittsalter rapide drückt. Nach dem Begrüßungssekt und einem gesanglichen Hoch auf das Geburtstagskind geht es bei Kaffee und Kuchen um Jugenderinnerungen. Um die Studentenzeit nach Kriegsende in der zerbombten Stadt, die zum Teil skurrilen Professoren an der Hochschule. 

Es wird über die Kommilitonen getratscht, von denen sich von Semester zu Semester immer mehr gen Westen verabschiedeten. Dann erzählt einer der Gäste, mein Patenonkel Max – bei dem ich inzwischen seit gut 30 Jahren das Onkel vor dem Vornamen weglassen darf – die Geschichte von 360 Eiern. Diese hatten er, mein Vater und ein weiterer Freund einmal als Lohn für einen Arbeitseinsatz von den Genossenschaftsbauern erhalten. 

Mein Vater verschwindet kurz in der Kammer und kommt mit einer Flasche zurück.

„Wir waren zu dritt, das machte also 120 Eier pro Person“, erzählt der Mittachtziger. Vorsichtig wurde die Ware vom Land in die Stadt transportiert und den staunenden Frauen präsentiert. In allen drei Haushalten schrien die Frauen auf: Was sollen wir mit 120 Eiern anfangen?

Die überall und ohne Absprache gefundene Lösung hieß Eierlikör. Diesen präsentierte man dann stolz einander und verkostete ihn gegenseitig. Künftig gab es immer Eierlikör, was zu zunehmenden gegenseitigen Besuchen verleitete. Zum Glück gab es nach dem nächsten Arbeitseinsatz statt Eiern ein paar frisch geköpfte Hühner. Dafür war der Aufschrei in den drei städtischen Haushalten noch größer.

Mein Vater verschwindet nach der Geschichte grinsend in der Kammer und kommt mit einer Flasche gelber Flüssigkeit zurück: „Eine hätte ich noch.“ Zwei, drei Tage später komme ich zurück auf die Eier-Legende: Die sei aber schön gewesen. Vater nickt und lacht, sein Jugendfreund könne beim Spiegel anfangen. „Jedes Jahr werden es mehr Eier.“