© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/19 / 15. März 2019

Pankraz,
V. Reinhardt und die Macht der Vox populi

Merkwürdige Verlautbarung des Renaissanceforschers Volker Reinhardt von der Universität Freiburg in der Schweiz: In einem ganzseitigen Artikel für die Neue Zürcher Zeitung behauptet er, der sogenannte Populismus sei nichts weiter als eine Erfindung des berühmten florentinischen  Ur-Politologen und Politikberaters Niccolò Machiavelli (1469–1527), die später von anderen Gelehrten, etwa Jean-Jacques Rousseau, aufgegriffen und populär gemacht worden sei. Professor Reinhardt bedauert das sehr. Denn von daher rühre ja all der  Ärger, den uns heute die vielen Populisten in der Politik bereiteten.

Dabei habe Machiavelli, fährt Reinhardt anklagend fort, in Florenz doch einen Konkurrenten und Gegenspieler namens  Francesco Guicciardini gehabt, der die viel besseren Argumente gehabt hätte! Guicciardini, so Reinhardt, „zerpflückte die populistischen Thesen seines Zeitgenossen Machiavelli Punkt für Punkt, und zwar mit unleugbar stärkeren Argumenten, differenziert, psychologisch und historisch fundiert – doch wer kennt heute noch Guicciardini? Populisten wie Machiavelli, Bodin und Rousseau hatten und haben Erfolg, weil sie die Welt in übersichtlichen, griffigen Formeln erklären“.

Nun, die Gedanken Guicciardinis mögen „unleugbar stärker“ gewesen sein als die Machiavellis (oder auch nicht)  – so wie Reinhardt selber argumentiert, vermag er nicht zu überzeugen. Schon seine zentrale Behauptung, Machiavelli sei der Erfinder des Populismus gewesen, indem er als erster eine „Vox populi“ also eine spezifische Stimme des Volkes jenseits der eigentlichen Politik konstatiert habe, stimmt nicht. Die Rede von der Vox populi als einer unabhängigen Kraft, die von jedem Politiker zu berücksichtigen sei, ist im Gegenteil uralt, reicht bis in die tiefsten Tiefen anthropologischer Lebenserfahrung.


Von Anfang an regierte  der Glaube sowohl an die Heiligkeit als auch an die politische Wichtigkeit einer Vox populi, auch und nicht zuletzt im europäischen Abendland. Schon Homer ermahnte seinen Odysseus, er solle bei seinen herrschaftlichen Entscheidungen unbedingt auf die Stimme des Volkes hören, nur so werde er das Wohlwollen der Götter erlangen und Erfolg haben. Und Seneca (1–65 n. Chr.) formulierte dann den entscheidenden Satz, der durch die Zeiten hindurch immer wieder zitiert wurde „Crede mihi, sacra populi lingua est“, auf deutsch: „Glaube mir, die Sprache des Volkes ist heilig.“

Natürlich meldeten sich, Jahrtausende vor Guicciardini, auch die Skeptiker zu Wort, hochgelehrte Empiriker wie Cicero, welche auf die Launenhaftigkeit und den Kurzblick des Volkswillens verwiesen, seine Verführbarkeit. Schon früh wurde gewarnt, daß eine gute Herrschaft sich nicht von bloßen Stimmungen leiten lassen dürfe, sondern einzig von der Stimme der Vernunft. Und zur Vernunft-

einsicht seien nun mal geistige Eliten notwendig, die folglich an die Spitze von Entscheidungsgemeinschaften gehörten und denen man Handlungsspielraum einräumen müsse.

Freilich, Verhöhnungen der Vox populi, etwa im Stil moderner TV-Satiriker, gab es in der Antike und im frühen Christentum, soweit Pankraz sieht, nicht. Die satirische englische Redeweise „Vox populi, vox Halfpenny“ stammt aus dem neunzehnten Jahrhundert und unser deutsches „Vox populi, vox Rindvieh“ gar erst aus dem zwanzigsten. Geprägt wurde es 1918 von dem aristokratischen Reichstagsabgeordneten Elard von Oldenburg-Januschau, der sich später sehr dafür schämte und in seiner Autobiographie das Wort dem preußischen Generalfeldmarschall Friedrich von Wrangel in den Mund schieben wollte.

So ändern sich halt die Zeiten. Die heutigen „Eliten“ des herrschenden politisch-medialen Komplexes kennen nicht den geringsten aristokratischen Respekt mehr vor der Volksmeinung. Jeder Redaktionsvolontär weiß inzwischen, was er zu tun hat, um Karrierechancen zu kriegen, nämlich lauthals in den Chor der Volksverächter einzustimmen. Populismus, so weiß er, ist das schlimmste aller Übel. Jede seriöse Diskussion darüber, was Volksherrschaft eigentlich bedeutet, was sie leisten kann und was nicht, wird rigoros mit dem Schimpfwort „Populismus“ zugedeckt und dadurch, so hofft man, zum Schweigen gebracht.


Beispielsweise diese Frage: Ist die alle vier oder fünf Jahre für den einzelnen anfallende Möglichkeit, in der Wahlkabine sein Kreuz unter den Namen einer Partei zu setzen, wirklich das A und O jeglicher Demokratie? Oder bedarf es bei ganz großen anfallenden Entscheidungen, nach Schweizer Vorbild, einer direkten Volksabstimmung? „Auf gar keinen Fall!“, tönt es aus den Medien. Und die Schweiz? Die sei ja, erfahren wir aus den Medien, längst im Begriff, selber ein rechtspopulistisches Land zu werden. 

Und was ist mit dem klassischen Wort des unvergessenen Soziologen Ralf Dahrendorf, damals als er schon vom Tod überflankt war und das Reden über den bösen Populismus gerade anhob? „Ein Populist“, definierte Dahrendorf, „ist nichts weiter als ein populärer Konkurrent, dessen Programm man nicht mag.“ Das traf ins Schwarze, hinzuzufügen wäre ihm allenfalls, daß es gerade die Popularität seines Redens ist, die die Gegner in Rage und Verlegenheit bringt. Denn sie selbst haben eben nur noch Phrasen vorzubringen.

Cicero hatte zweifellos recht: Gute Herrschaft braucht politische Eliten, die der Spontaneität, der durchaus vorkommenden Launenhaftigkeit und Kurzdenkerei des Volkswillens Paroli zu bieten verstehen. Aber deren Hauptantrieb darf nicht der Erhalt der eigenen Macht um buchstäblich jeden Preis sein, sondern einzig und allein die politische Vernunft, die Sorge um das Gedeihen und die Sicherheit des ganzen Volkes. Zwischen Volkswillen und politischer Vernunft besteht ein Zusammenhang, der niemals zerrissen werden darf.

Der von Volker Reinhardt so sehr bewunderte Francesco Guicciardini wußte das nicht. Machiavelli war der bessere Politikberater.