© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/19 / 15. März 2019

Bedrohung der mit Moralismus imprägnierten Schneckenhäuser
„Durch ein rechtslastiges und antisemitisches Prisma betrachtet“: Der erbärmliche Versuch, Lorenz Jägers Benjamin-Biographie zu denunzieren
Dirk Glaser

Im Frühjahr 2017, kurz bevor er sich in den Ruhestand verabschiedete, legte Lorenz Jäger, der zuletzt das Ressort Geisteswissenschaften in der FAZ leitete, eine Biographie über „Das Leben eines Unvollendeten“ vor (JF 13/17). Sie handelt von dem Schriftsteller und Philosophen Walter Benjamin (1892–1940) und wurde allseits beifällig aufgenommen, weil sie die Schwarz-Weiß-Malerei hinter sich läßt, die in der Benjamin-Literatur gerade dort dominiert, wo es hochpolitisch zugeht, auf dem unübersichtlichen Feld der deutsch-jüdischen Beziehungsgeschichte. 

Doch Jägers Bemühen, als Zeit- und Ideenhistoriker die Komplexität zu steigern, muß bei jüngeren Akademikern, die gelernt haben, Vergangenheit nur in groben Rastern („Frames“) wahrzunehmen, auf Verunsicherung und heftige Ablehnung stoßen. Was dann so bösartige Reaktionen hervorruft, wie sie sich in der Rezension Alexandra Richters entladen haben (Weimarer Beiträge, 2/2018). Die seit 2016 am Berliner Walter-Benjamin-Archiv forschende Literaturwissenschaftlerin schwingt gegen Jäger die schärfste Waffe, die man hierzulande im vermeintlich herrschaftsfreien Diskurs zum Einsatz bringen kann: die „Antisemitismus“-Keule. Jäger, so wettert die Rezensentin, betrachte das Werk Benjamins „durch ein rechtslastiges und antisemitisches Prisma“. 

Jäger orientiert sich an Gershom Scholem 

Die ganze „fatale Tragweite“ solcher Deutung erschließe sich zwar erst nach „wiederholtem Lesen“. Aber dann kommt zumindest die mit dieser alten Kulturtechnik weniger vertraute Frau Richter aus dem schäumenden Staunen nicht mehr heraus. Dem naiven Leser, der es im Gegensatz zur „antifaschistisch“ konditionierten, freilich nie sehr stilsicher formulierenden Spürnase Richter mit einmaliger Lektüre bewenden lasse, würden „nach und nach und in feinsten bis gröbsten Dosierungen Klischees und Gemeinplätze des antisemitischen Propagandamaterials verabreicht“. Dabei werfe es ein „bezeichnendes Licht auf die Absicht des Verfassers“, wenn er die „weltweite, Disziplinen übergreifende Diskussion“ über Benjamins Schriften totschweige. Weil Jäger nämlich Benjamin als jüdischen Sonderling, dessen Denken resonanzlos um sich selbst kreiste, porträtieren und ihm jede „positive Originalität“ absprechen wolle. Mangels eigener, origineller Kreativität, so suggeriere Jäger, sei Benjamin lediglich fähig gewesen, „deutsche philosophische Begriffe jüdisch umzuprägen“. Kein Wunder daher, wenn in den Augen Jägers diese Biographie exemplarisch die Unmöglichkeit der jüdischen Assimilation beweise. „Diese Stoßlinie [?] führt direkt in die Ecke der Geschichte [sagt man so?], in die Jäger Benjamin gerne stellen würde, in der er aber schon zu seinen Lebzeiten nie stand“.

So unsinnig wie auch diese Unterstellung ist, hätte Jäger doch einen Kronzeugen aufbieten dürfen, der in der „Judenfrage“ weitaus kompetenter urteilt als Frau Richter. Kein Geringerer als Gershom Scholem, den weltberühmten Gelehrten, an dem sich Jäger bei diesem Thema ohnehin seit Jahrzehnten orientiert. Scholem, der wie sein Freund Benjamin gleichfalls dem assimilierten jüdischen Bürgertum Berlins entstammte, der aber die zionistische Option wählte und nach Palästina auswanderte, sprach von der in der Bonner Republik wiedergutmachungsselig konstruierten „deutsch-jüdischen Symbiose“, die allein durch die NS-Diktatur zerstört worden sei, nur mit Hohn. 

Lorenz Jäger muß in seiner Replik auf diese Denunziation, die eine einzige „map of misreading“ ausrolle, geistig nicht viel investieren (Weimarer Beiträge, 6/2018). Zu offensichtlich ist, daß die substanzlosen Anklagen rein ideologisch motiviert sind. „Die O-Töne der Zwischenkriegszeit“, so gibt er seiner insoweit unmusikalischen Rezensentin zu bedenken, „klingen oft ganz anders, als man es nach heutigen Maßgaben wahrhaben will.“

Das Scharmützel offenbart einen Generationenkonflikt

Doch die von Benjamin perfektionierte Kunst des Gewißheiten zersetzenden „Zeichenlesens“ ist in einer schlecht gelüfteten Unkultur, die gegenwärtig zunehmend auf totalitäre Eindeutigkeit fixiert ist und Ambivalenzen als Bedrohungen ihrer mit Dreigroschen-Moralismus imprägnierten Schneckenhäuser auffaßt, nicht länger gefragt. Wie soll eine Frau Richter auch begreifen, daß die von Benjamin und seiner Freundin Hannah Arendt gezogenen Parallelen zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus keineswegs „historisch höchst zweifelhaft sind“. Wie soll sie verstehen, was Benjamin, Scholem, Martin Buber oder Oskar Goldberg, was Zionisten wie Assimilierte über „Rasse“ und „Blut“ dachten? Wo sie doch schon daran scheitert, den Namen des Frankfurter Germanisten Franz Schultz („Schulz“) richtig zu schreiben, den Jäger „wagt“, gegen den – tatsächlich unbegründeten – Vorwurf in Schutz zu nehmen, er habe aus antisemitischem Ressentiment 1926 Benjamins Habilitation verhindert.

Dieses scheinbar marginale Scharmützel offenbart idealtypisch einen Generationen- als Kulturkonflikt, wie er zwischen altgewordenen Kindern der Bonner und dem Nachwuchs der Berliner Republik heute in Hörsälen, Redaktionen und Leserbriefspalten ausgefochten wird. Hier die Hüter der Herkunftswelt, die „alles, was je schrieb, in Liebe und Haß, als immerfort mitlebend behandeln“ (Arno Schmidt) und so in der Vergangenheit der Gegenwart Ressourcen für ihren kritischen Selbstbezug erschließen, ohne den eine demokratische, pluralistische Öffentlichkeit austrocknet. Dort anstrengende Differenz nicht aushaltende Verächter des Überlieferungsraums, die nur lesen, um sich ihre eigenen Ansichten bestätigen, ihre stets normativ gemeinten Aussagen autorisieren zu lassen.