© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/19 / 15. März 2019

Imperiale Ansprüche auf beiden Seiten
Weltmachtambitionen: Im Frühjahr 1919 begann der Krieg zwischen Polen und Sowjetrußland
Stefan Scheil

Was ihr nehmt, wird euer sein!“ Diese Botschaft brachte der damals weltberühmte polnische Pianist Ignaz Paderewski Ende 1918 aus Westeuropa mit in die neugegründete Republik Polen. Paderewski kam aus Paris, wo die ersten Vorbereitungen für die kommenden Friedenskonferenzen bereits angelaufen waren; er bezog sich damit auf Polens Chancen, seine künftigen Grenzen möglichst großräumig zu gestalten. Paderewski wußte aus eigener Erfahrung um die umfassende Unkenntnis in den Reihen der Westmächte, was ethnische oder historische Tatsachen in Osteuropa betraf. Zudem würde es in deren Reihen kaum jemandem moralisches Kopfzerbrechen bereiten, sollte den besiegten Deutschen oder den abtrünnigen Sowjetrussen die eine oder andere Ungerechtigkeit widerfahren. Es galt für Polen also, Fakten zu schaffen, Frankreich, Großbritannien und die USA würden sie schon anerkennen. Idealerweise würde dabei ein polnischer Staat entstehen, der an die Tradition von 1772 wieder anknüpfen könnte, dem Jahr, als mit der ersten polnischen Teilung der politische Untergang begonnen hatte.

So stand denn Osteuropa zur umfassenden Neuverteilung bereit. Das sah man in Moskau übrigens kaum anders. Die Sowjets hatten zügig eine umfassende Liste jener früheren internationalen Abkommen zusammengestellt, die sie seit der Oktoberrevolution nicht mehr anerkennen wollten. Mit auf dieser Liste standen die Ergebnisse des Wiener Kongresses von 1815 und sämtliche polnischen Teilungsabkommen bis hin zu eben jenem von 1772. Das war eine international einzigartige Zugabe an die polnische Position.

Die russische Revolution nach Europa ausdehnen  

Darüber hinaus bot man Polen mehrfach eine großzügige neue Grenzziehung an. Die fiel zwar nicht so aus wie ein Jahr zuvor gegenüber Deutschland, dem Revolutionsführer Lenin im Frieden von Brest-Litowsk die ganze Ukraine überlassen mußte. Aber auch die polnische Führung hätte mit dem jetzt zugestandenen Status quo auch dort durchaus zufrieden sein können, denn Galizien einschließlich Lemberg waren unter polnischer Kontrolle. 

Dazu kamen noch „freie Hand“ in Litauen und ein in Aussicht gestelltes Plebiszit in Weißrußland über dessen möglichen Verbleib in einer polnischen Föderation. Viel, doch nicht genug. Polens starker Mann, Josef Pilsudski erhob noch Forderungen auf Teile Lettlands einschließlich der Stadt Dünaburg. Er hielt außerdem ein allgemeines sowjetisches Desinteresse an der ganzen Ukraine für notwendig und durchsetzbar.

Unter diesen Umständen standen die Zeichen bald auf Krieg zwischen Polen und Sowjetrußland. Es hat Versuche gegeben, diesen Krieg als Präventivkrieg gegen sowjetische Angriffsabsichten darzustellen. Daran ist sicher die grundsätzliche Absicht der sowjetischen Machthaber richtig gesehen, ihre bisher nur russische Revolution nach Europa hin auszudehnen. Zu diesem Zweck gedachte man in Richtung Deutschland auch bewaffnet durch Polen zu marschieren. So verwandelte sich Polen zur ersten Bastion des christlichen Europa gegen ein verbrecherisch entfesseltes, heidnisches Asien, eine Rolle, die man in Warschau nur allzu gern annahm. Entsprach sie doch dem polnischen Selbstbild und ergänzte das Selbstverständnis der wiedererstandenen Republik als Fortsetzung einer alten, bis ins Mittelalter zurückreichenden Tradition polnischer Großmacht. 

Christlich-kommunistische und polnisch-russische Gegensätze überlagerten sich also. Pilsudski hielt seine neuen polnischen Streikräfte gegenüber der Roten Armee zudem für militärisch überlegen. Überhaupt kamen starke Sätze in der heute kaum noch nachzuvollziehenden Atmosphäre gut an. Polen sei auf eine Ebene mit „den größten Mächten der Welt“ zu heben, verkündete Pilsudski im Januar 1920 öffentlich. Diese blumige Formel mochte er wohl selbst kaum ernst nehmen, aber sie gab jedenfalls den eigenen Ordnungsanspruch in Osteu-ropa wieder. Getreu dem Vorhaben, die unmittelbaren Nachkriegswirren zur maximalen Hebung der polnischen Größe zu nutzen, mußte eine Auseinandersetzung darüber mit Rußland jetzt gesucht werden. 

Die Zustimmung der internationalen Politik schwankte. Konnte man zur Jahreswende 1918/19 noch nehmen, was man wollte, so setzte mit der deutschen Vertragsunterzeichnung in Versailles im Sommer 1919 ein gewisser Wunsch nach Ruhe ein. In Großbritannien sprach sich der damalige Kriegsminister Winston Churchill eher zugunsten einer polnisch dominierten Ukraine aus, der stets polenkritische Premier Lloyd George eher dagegen. Negativ fiel auch die Reaktion in den Vereinigten Staaten aus, wo aus Regierungskreisen die Befürchtung geäußert wurde, dem bolschewistischen Regime würde aus einem Krieg gegen Polen patriotisch-russische Unterstützung erwachsen. Jedwede finanzielle oder materielle Unterstützung wollte Washington nur für einen von polnischer Seite streng defensiv geführten Krieg leisten.

So ein Krieg war nicht geplant. Größere Scharmützel begannen im Frühjahr 1919, so daß der Kriegsbeginn in diesen Tagen hundert Jahre her ist. Aber erst am 25. April 1920 begann schließlich eine große polnische Offensive, die bereits am 8. Mai zur Eroberung Kiews führte. Die Begrüßung durch die Bevölkerung dort sei überaus freundlich gewesen, notierten ausländische Beobachter. Auch die nationale Einheit Polens war unter dem Eindruck des Erfolgs gegeben wie selten in den letzten Jahren, so daß sich für den Moment ein Erfolg der großen Konzeption einer Rückkehr von „1772“ abzeichnete. 

Bereits Anfang Juni 1920 folgte jedoch die sowjetische Gegenoffensive, die von der Roten Armee nun tatsächlich mit umfangreicher Unterstützung zaristischer Offiziere und unter der Parole der Rettung des Vaterlands geführt werden konnte. Wenn es auf polnischer Seite Weltmachtambitionen gegeben haben sollte, auch auf der Gegenseite fehlten sie nicht. In einem Brief an Lenin vom 12. Juni 1920 erörterte Josef Stalin bereits die Problematik der künftigen Außenbeziehungen zwischen der Sowjetunion und „Sowjetpolen“, „Sowjetungarn“ und „Sowjetdeutschland“. Im Juli sahen sich die polnischen Delegierten auf der damals gerade stattfindenden internationalen Konferenz im belgischen Spa, die eigentlich nur die Höhe von deutschen Reparationszahlungen festlegen sollte, scharfer Kritik für die Politik ihrer Regierung ausgesetzt.

Wenn die sowjetische Offensive tatsächlich erfolgreich verlaufen sollte, würde Deutschland als Zahler genauso ausfallen wie Rußland und die Versailler Ordnung vollständig in Frage stehen. Möglicherweise konnte Deutschland in der gegenwärtigen Situation Maßnahmen ergreifen, um eine Revisionspolitik gegenüber den bisher in bezug auf Polen gefallenen Entscheidungen zu betreiben. Militärische Mittel, reguläre wie irreguläre, standen dafür noch zur Verfügung. Vielleicht war sogar Polens Existenz insgesamt gefährdet. 

Das polnische Imperium blieb eine Vision

Am Ende rettete sich die Republik im März 1921 durch französische Unterstützung in den „Frieden von Riga“, der lediglich Teile der Ukraine und Weißrußlands bei der polnischen Republik beließ. Ideologisch gesehen schuf dies neue Mythen, hatten doch polnische Streitkräfte im „Wunder an der Weichsel“ die gottlose Weltrevolution aufgehalten. Territorial gesehen genügte das Ergebnis den eigenen Ansprüchen nicht.

Letztlich blieb das polnische Projekt eines unmittelbar aus dem Ersten Weltkrieg hervorgehenden polnischen Imperiums unvollendet. Das „Intermarium“, also ein Polen vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee, blieb eine Vision. Der polnische Zugang zum Meer war vorerst auf den schmalen Küstenstreifen Westpreußens beschränkt, nachdem sich auch Litauen keiner polnischen Oberhoheit unterwerfen wollte. Pilsudski ließ zwar die proklamierte litauische Hauptstadt Wilna besetzen, ging aber nicht weiter vor.

Nicht nur in Polen, auch andernorts hatte sich in den 150 Jahren seit 1772 ein neues Nationalbewußtsein entwickelt, das gegen den imperialen Anspruch Warschaus stand. Die Republik Polen blieb jedoch auch ohne die Föderation mit Litauen ein Staat, der sich so gut wie überall über das ethnisch gesehen polnische Gebiet hinaus in andere Länder hinein ausdehnte und in dem die Polen insgesamt nur eine knappe Mehrheit stellten. Zwar war nicht alles nach Wunsch verlaufen. Doch genommen, das hatte man reichlich.