© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/19 / 15. März 2019

Die Distanz schwindet
Sprache, Intelligenz, Kooperation und soziales Lernen finden Forscher immer häufiger auch bei Tieren
Dieter Menke

Der Mensch, so witzelte Loriot, sei das einzige Lebewesen, das seine warme Mahlzeit im Flug zu sich nehmen könne. Etwas komplizierter sei es dann doch, den Unterschied zwischen Mensch und Tier zu bestimmen, wenden dagegen die Züricher Anthropologen, Evolutionsbiologen und Linguisten ein, die ihre neuesten Forschungsergebnisse im Hausorgan ihrer Universität (UHZMagazin, 3/18) präsentieren.

Zwar greife Vicco von Bülow entschieden zu kurz, aber, so räumen die Wissenschaftler ein, vollkommen daneben lag der 2011 verstorbene große deutsche Komiker nicht. Denn die Entdeckung des Feuers und die Entwicklung des Flugzeugs seien schließlich kulturelle Leistungen des Menschen, wie sie kein Tier vorzuweisen habe. Trotzdem ist die Trennwand zwischen Tier und Mensch nicht so undurchlässig wie weithin angenommen wird. Im Gegenteil, das zeigen auch gerade die Züricher Forschungen vornehmlich an Affen und Vögeln.

Lebenslange Freundschaften

Immer klarer tritt dabei zutage, daß Tiere zahlreiche Fähigkeiten besitzen, die wir ihnen lange Zeit kaum zugetraut haben. Fähigkeiten, obgleich nur in rudimentären Formen ausgebildet, über die der Mensch gleichfalls verfügt, der sie allerdings im Verlauf der Evolution perfektionierte. So wies der Züricher Anthropologe Michael Krützen kürzlich nach, daß Delphine „Namen“ tragen und lebenslange Freundschaften pflegen. Und seine Kollegin, die Verhaltensbiologin Marta Manser, studierte an Erdmännchen, wie intensiv sie kommunizieren und kooperieren.

Gleichfalls zur Revision des eingefleischten Vorurteils, allein der Mensch habe ein Patent auf ein komplexes Sozialverhalten, trugen Carel van Schaiks Feldforschungen auf Borneo und Sumatra bei. Dort beobachtete der frühere Direktor des Züricher Anthropologischen Instituts seit den 1990ern, wie Orang-Utans einfache Kulturtechniken einüben und weitergeben.

Van Schaiks auf das Sozialverhalten und die soziale Intelligenz von Orang-Utans konzentrierte Untersuchungen führt die Postdoktorandin Caroline Schuppli in einer von ihrem Lehrer gegründeten Forschungsstation auf Sumatra fort. Dabei ergab ein Vergleich von Orang-Populationen Erstaunliches. Schuppli ging für ihre Studien im Regenwald von der Hypothese aus, daß soziales Lernen nicht nur das einzelne Affenjunge, sondern die ganze Gruppe intelligenter mache und ihre Überlebens- wie Fortpflanzungschancen erhöhe.

Eine Annahme, die sich vollauf bestätigte. Denn die Orangs der Sumatra-Gruppe verhielten sich viel sozialer als ihre Artgenossen auf Borneo. Das ließ sich an der Häufigkeit von Kontakten der Weibchen untereinander ablesen, die auf Sumatra 55 Prozent ihrer Zeit zusammen verbrachten, während die Borneo-Weibchen sozialen Kontakten nur 15 Prozent ihrer Zeit opferten. Damit gaben sie ihrem Nachwuchs aber auch wesentlich seltener Gelegenheit, in der Gruppe zu lernen und sich Techniken des Nahrungserwerbs abzuschauen.

Da es unter Menschenaffen keine Gleichstellungsbeauftragten gibt, die solche „ungerecht“ verteilten Startchancen im späteren Leben zu korrigieren versuchen, bleibt es den Borneo-Orangs verwehrt, das, wie Schuppli formuliert,  „höhere kulturelle Niveau“ ihrer Artgenossen auf Sumatra zu erreichen. Bei denen zählte Schuppli 198 sozial vermittelte Innovationen. Nur 116 waren es auf Borneo. Allein die Menschenaffen auf Sumatra sind auch in der Lage, Werkzeuge zu verwenden. Berühmtestes Beispiel ist das Öffnen der Neesia-Frucht mit einem virtuos gehandhabten Stöckchen. Schuppli schlußfolgert daraus entsprechend apodiktisch: „Das soziale Lernen beeinflußt die Evolution einer Art, weil es klüger macht.“ Wie alle Anthropologen um van Schaik ist sie überzeugt, daß gerade diese Fähigkeit, kulturelle Errungenschaft zu tradieren, der Schlüssel ist zum Aufbau komplexer, arbeitsteiliger Sozialordnungen, wie sie schließlich der Mensch in seinen Wissensgesellschaften schuf. Erdgeschichtlich sei es daher nur ein Wimpernschlag vom Neesia-Stöckchen bis zum Supercomputer.

„Die Gemeinsamkeiten werden fast zu stark betont“

Ähnlich grundlegende Erkenntnisse, darauf weist der Wissenschaftsjournalist Thomas Gull in seinem Report über die Züricher Tierforscher hin, gewannen jetzt ihre Kollegen vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Sie räumen mit der Vorstellung auf, Tiere lebten nur im Hier und Jetzt, im Glück oder Leid des Augenblicks, weil ihnen das Gedächtnis fehle.

Leipziger Experimente beweisen hingegen, daß Tiere nicht nur Erinnerung haben, sondern auch für die Zukunft planen können. Das gilt etwa für Menschenaffen, denen beigebracht worden ist, einen Futterbehälter mit Werkzeug zu öffnen. Als die Probanden einmal ihre Werkzeuge nicht neben dem Behälter fanden, reagierten sie frustriert. Legte man sie ihnen am nächsten Versuchstag wieder hin, nahmen sie sie nach der Benutzung mit zu ihren Schlafplätzen.

Derart vorausschauendes und im Ansatz planendes Handeln ist in den letzten Jahren häufiger auch bei anderen Tierarten nachgewiesen worden. Inzwischen geradezu prominent sind die Krähen der britischen Kognitionswissenschaftlerin Nicola Clayton, die auf intelligente Weise Futtervorräte anlegen. Verderbliche Mehlwürmer deponieren sie in oft frequentierten Verstecken, während sie haltbarere Erdnüsse an Orten lagern, die sie seltener aufsuchen. So rücken in der aktuellen Forschung Mensch und Tier näher zusammen. So nahe, daß der Biologe Simon Townsend (Professor am Department of Comparative Linguistics an der UZH) und die Postdoktorandin Sabrina Engesser selbst die Sprache als Alleinstellungsmerkmal von Homo sapiens relativieren.

Denn Vorformen der menschlichen Sprache, die Kombination akustischer Elemente, die willkürliche Zuweisung von Bedeutung und die Entkoppelung unserer Kommunikation von unseren emotionalen Zuständen, beobachteten Townsend und Engesser bei australischen Rotscheitelsäblern, afrikanischen Elsterdroßlingen sowie bei der Integration eines „holländischen“ Schimpansen-Rudels in eine „schottische“ Gruppe im Zoo von Edinburgh.

Die aus evolutionsbiologischer Sicht schwindende Distanz zwischen Tier und Mensch zeitigte in der Schweiz politische Konsequenzen. Galten Tiere dort wie überall als „Sachen“, bestimmt das neue Tierschutzgesetz von 2005, daß Wirbeltiere Würde haben. Die Unterscheidung von vernunftbegabten Menschen und Tieren als seelenlosen Automaten, so bilanziert der in Zürich Umwelt-, Tier- und Wirtschaftsethik lehrende Theologe Markus Huppenbauer die Forschungen seiner naturwissenschaftlichen Kollegen, lasse sich nicht mehr aufrechterhalten, die Übergänge seien fließend geworden.

Jedoch sollte man nicht so weit gehen wie Peter Singer, der australische Ethiker und radikale Vorkämpfer für Tierrechte, für den Interessen empfindungsfähiger Tiere gleich viel zählen wie die der Menschen. Während Singer daraus ein Tötungsverbot für solche Arten ableitet, statuiert Huppenbauer wegen der „in letzter Zeit fast zu stark betonten Ähnlichkeiten“ nur eine Pflicht, Tiere gut zu behandeln, sie artgerecht zu halten und bei Tierversuchen noch restriktiver zu verfahren.

Themenheft „Das Tier und wir – Anatomie einer Beziehung“ (UHZ-Magazin, 3/18):

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