© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/19 / 22. März 2019

Zeitschriftenkritik: Etappe
Kulturumbruch 1968
Werner Olles

Es war eigentlich eine schöne Parole: ‘Jetzt fängt die Demokratie erst richtig an!’ Leider verwechselten die mündig gewordenen Hitlerjungen und -mädchen in den 60er und 70er Jahren Demokratie mit Massenliberalismus. Heute, 50 Jahre später, belehrt der Blick auf die Institutionen einer multimorbiden BRD, was jene Parole im Klartext bedeutete: ‘Kommt, wir versaufen der Oma ihr klein Häuschen?’“ Heinz Theo Homann, Herausgeber der in „zwanglos-freiem Rhythmus“ erscheinenden Etappe, kritisiert in der 24. Ausgabe (2018/2019) „die prinzipielle Weigerung, das Staatsschiff in sinnhafte Gewässer zu steuern“, sofern auch nur der Hauch einer Gefahr besteht, daß der „dominant gewordene Finanzkapitalismus hierdurch irgendwelche Beeinträchtigung erfahren könnte“. Das Ergebnis sei „ein Paradies für Reiche, ein verwahrlostes übelriechendes Aquarium für die Massen“.

Den Schuldigen für diesen Zustand hat der Sozialphilosoph Peter Furth in „Der Geist von 1968“ ermittelt: Es gehe das Gerücht um, daß die eigentliche Bundesrepublik im Jahr 1968 gegründet wurde, da sie, anders als die von 1949 wirklich aus dem „Schatten der deutschen Geschichte“ herausgetreten sei. Der Gründungsmythos von 1968 trenne die Bundesrepublik ein für allemal von ihrer Vorgeschichte, denn tatsächlich stelle die Intention der Kulturrevolution eine „Entgrenzung der Politik“ dar, die „eine neue Qualität des Totalitären“ (Furth) bedeute. So befinde sich der BRD-Bürger heute „in einem sonderbaren Ineinander von zivilreligiöser Schuldgemeinschaft und konsumfreudiger Spaßgesellschaft“.

Mit dem 1989 verstorbenen Kabarettisten Wolfgang Neuss kommt ein origineller Zeitzeuge zu Wort: „Man muß das Grundgesetz vor seinen Vätern schützen und die Verfassung vor ihren Schützern.“ Seinen Tod kommentierte Matthias Beltz mit den Worten: „Alle hat er fertiggemacht, der kleine Mann und hat trotzdem nach vielen Joints nie vergessen, daß auch Trinker Menschen sind.“ Für Neuss war die APO „deutscher als deutsch“ in ihrer Humorlosigkeit.

Otto Kirchheimer (1905–1965), den Hermann Heller zu den „ästhetisch-heroischen Revolutionsromantikern von Links und Rechts“ zählte, hatte bereits vor 60 Jahren erkannt, daß die Art des „Menschenexports, der die Sicherheit und die nationalen Interessen des Aufnahmelandes beeinträchtige“ ein „unfreundlicher Akt des Ursprungslandes“ sei: „Die staatlich geordnete Gesellschaft würde sich auflösen, wenn das Recht zu emigrieren einem jeden zugestanden würde.“ Am 4. September 1959 schrieb er an Carl Schmitt: „Was der allgemeine Verdummungsprozeß und die grenzenlose Manipulierungsfähigkeit der Menschen der nächsten Generation bescheren wird, wage ich mir nicht auszudenken.“

Weitere Beiträge befassen sich mit einem „Requiem für Albert Caraco“ (Axel Matthes), „De Maistre als Diplomat“ (Heinrich Bernhard Oppenheim) und „Erinnerung an Rosa und Karl“ (August Winnig).

Kontakt: Etappe, Postfach 21 01 23, 53156 Bonn. Das Einzelheft kostet 12 Euro, ein Abo zu drei Ausgaben 35 Euro.

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