© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/19 / 22. März 2019

Wilde Romanze der Eigen- und Machtliebe
Liebenswürdiger Schrecken: Tilman Singer debütiert im Kino mit einem ungewöhnlichen Horrorfilm
Sebastian Hennig

Auf beinahe heitere Weise spielt der 1988 in Leipzig geborene Regisseur Tilman Singer in seinem ersten Langfilm „Luz“ die Klischees des Horrorfilmgenres aus. Er erzeugt eine künstliche Melange von Sexualität, Exorzismus, Satanismus, Hypnose, physischer Gewalt und Manipulation. Das Ganze ist in nur achtzehn Drehtagen auf 16mm-Kodakfilm in Breitbild aufgenommen, eine ungewöhnliche ästhetische Entscheidung in Zeiten der Verfügbarkeit digitaler Sofortkontrolle. Die belichteten Filme transportierte der Regisseur in euphorischer Stimmung im eigenen Wagen zur Entwicklung nach Paris.

Trotz des Minimalismus hat das Ergebnis wenig gemeinsam mit den niedrig budgetierten Effekthaschereien der filmischen Subkultur der siebziger und achtziger Jahre. Das liegt daran, daß der experimentelle Charakter weniger in der technischen Ausführung als in der erzählerischen Grundhaltung zutage tritt. Wichtiger als der Einsatz schockierender Schnittwechsel und ekliger Präparierungen mit Tomatensoße und Gelatine sind ihm die Perspektive der Kamera, die Charaktere und der Raum.

Vieles bleibt offen und undurchsichtig

Zu Beginn des Films betritt die verletzte junge Taxifahrerin Luz (Luana Velis) eine dämmrige Polizeiwache. Dort sieht es eher wie in einem heruntergekommenen Hotel aus. Nachdem sie sich aus dem Getränkeautomaten bedient hat, beginnt sie den gleichgültigen Concierge auf spanisch zu beschimpfen, ob er sein ganzes Leben so zu verbringen gedenke. Damit ist die Hauptfigur vorgestellt, der weibliche Luzifer.

Gleichzeitig zum Eintreffen von Luz beginnt deren einstige Schulkameradin Nora Vanderkurt (Julia Riedler) in einer Bar mit dem Polizeipsychologen Dr. Rossini (Jan Bluthardt) zu flirten. Sie rückt am langen Tresen auf ihn zu und berichtet von den Manipulationen der Freundin im katholischen Internat. Die geflüsterten Dialoge dringen kaum durch die Nebengeräusche. Der Arzt ignoriert den Ruf zum Einsatz und läßt sich einen giftfarbigen Cocktail nach dem anderen einflößen, bis er seinem Gegenüber doch verfällt.

Letztlich treffen alle in einem Verhörzimmer mit der Kommissarin Bertillon (Nadja Stübiger) zusammen. Der einzige Normale ist der Simultandolmetscher Olarte (Johannes Benecke). Von einem Kontrollraum aus überträgt er aus dem Spanischen. Der Arzt hypnotisiert die Taxifahrerin, die auf einem Stuhl sitzend das Geschehen nachbildet. Alles wirkt sehr operettenhaft in Szene gesetzt. Die Musik von Simon Waskow hat großen Anteil an der Stimmung. Mal ist verspielter Freejazz zu hören, dann Ambientklänge, die übergehen in das entnervende Vibrieren und Surren, die genretypischen Signale für eine Gefahrenerwartung. Zusammen mit dem Anblick eines menschenleeren Korridors wird der Horror perfekt.

Tilman Singer hat neben einigen Kurzfilmen bislang vor allem Werbespots und Musikvideos hergestellt. Sein Spielfilm gibt sich keine Mühe, die Täuschung mit Spezialeffekten zu bemänteln. Stimmung und Bewegung bedeutet alles, Handlung und Beziehung bleiben nebensächlich. Das überdeutliche Verhältnis von aggressiver Allmacht und Schutzlosigkeit des Opfers, mit dem der gewöhnliche Horrorfilm wonnevoll-quälerische Gefühle beim Betrachter erzeugt, ist seine Sache nicht. Die Handlungen der Akteure verschränken sich, bis keine Zuweisung mehr möglich scheint.  

„Luz“ ist eine lockere filmische Skizze, die bei vollem Bewußtsein der Zaubermacht entstanden ist, die in den konventionellen Mitteln des Films liegt. Während der klassische Horror die bange Ahnung an der Leine durchschaubarer Erwartungen lenkt, bleibt hier vieles offen, undurchsichtig und unzusammenhängend. Der Betrachter wird von den Fieberschauern unerträglicher Anspannung verschont, stattdessen gleitet er mit den schönen Bildern und der beziehungsreichen Musik über den Film dahin. „Luz“ ist eine wilde Romanze der Eigen- und Machtliebe mit einer pikanten Prise Satanismus. Die Frauen singen zuletzt ein spanisches Lied auf den Mondschein.