© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/19 / 22. März 2019

Rechtsbruch und Staatskrise unter Angela Merkel
Das Ende der Geduld
Alice Weidel

Leute in Dreizimmerwohnungen erhalten den Staat“, hat Gottfried Benn einmal sarkastisch festgestellt und meinte, „die drunter und drüber“ nutzten ihn aus.

 Der Wohnraum, über den eine durchschnittliche Mittelstandsfamilie verfügt, mag seit Benns Zeiten größer geworden sein. Die Diagnose aber trifft zu: Es sind die Angehörigen der Mittelschicht, die Tag für Tag aufstehen, arbeiten, Steuern und Abgaben entrichten, Familien gründen, Kinder haben, sie erziehen und ihnen eine Ausbildung ermöglichen, sparen und Vorsorge treiben, die das Gemeinwesen am Laufen halten.

In Sonntagsreden wird diese Mittelschicht gern gepriesen. In der Praxis von Regierung und Verwaltung ist sie Melkkuh und Lastesel, auf deren Rücken die Politik ihr Tagesgeschäft betreibt und sich selbst und ihrer Klientel Vorteile verschafft, während sie die Grundlagen von Wohlstand und Wirtschaftskraft aushöhlt, die äußeren und inneren Institutionen schleichend zerstört, auf denen Bestand und Zusammenhalt der Gesellschaft beruhen, und das Vertrauen der Bürger in deren Funktionieren mißbraucht und hintergeht.

Die katastrophalen Fehlentscheidungen der Regierungsjahre von Bundeskanzlerin Angela Merkel verbinden sich mit Fehlentwicklungen, die sich über Jahrzehnte aufgebaut haben, bis sie zu fataler Dimension aufgelaufen sind. Das hat eine explosive Dynamik in Gang gesetzt, die das Deutschland, das wir kennen, in den Grundfesten erschüttert und in die Luft zu sprengen droht.

Zu den langfristigen Hypotheken gehört zweifellos der tief sitzende Irrglaube, der Staat sei letzten Endes irgendwie für alles zuständig.

Das hat die Wohlfahrtsbürokratie in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich wuchern lassen und mit ihr den Steuer- und Abgabenhunger der öffentlichen Hand. Klaglos ertragen zu viele Deutsche noch immer, daß der Staat ihnen mehr als die Hälfte ihres Einkommens auf diesem Wege entzieht.

Bei einer Staatsquote von rund 50 Prozent fällt es schwer, noch von Marktwirtschaft zu sprechen. „Halbsozialismus“ nennt Ludwig von Mises das treffend in den „Untersuchungen über den Sozialismus“, die er in seinem Werk „Gemeinwirtschaft“ unternommen hat.

Der Mythos der „sozialen Gerechtigkeit“, die angeblich nur durch Umverteilung herzustellen sei, weil der Staat besser zu wissen glaubt als die Bürger, wie deren Geld auszugeben sei, hat die Deutschen lange hilflos gemacht gegenüber immer dreisteren staatlichen Eingriffen in Vermögen und Privateigentum. Hier tritt die dunkle Seite ihres ambivalenten Verhältnisses zur Freiheit unheilvoll zutage.

Die Vordenker der „Achtund­sechziger“­-Bewegung waren Marxisten. Die Schattenseite des gesellschaftlichen Siegeszugs der „Achtundsechziger“ ist der von ihnen propagierte Kulturmarxismus, der unter dem Schlagwort der „Befreiung“ einer Vielzahl freiheitsfeindlicher Ideologien den Weg vom exotischen Randphänomen in den politisch-gesellschaftlichen Mainstream bereitet hat.

Die Ideologie des „Gender Mainstreaming“ und des Multikulturalismus hat hier ebenso ihre Wurzeln wie die Diskreditierung des Leistungsgedankens in Schule und Bildung und eine weithin akzeptierte Technik- und Industrie­feindlichkeit im Namen von Ökologie und „Klimaschutz“.

Die Wohlstandsverluste für Deutschland belaufen sich nach Schätzungen schon jetzt auf einen dreistelligen Milliardenbetrag, die Haftungsrisiken haben die Billionengrenze erreicht. Die deutschen Privatvermögen schrumpfen inzwischen auch real.

Daß die etablierten Parteien sich den Staat zur „Beute“ machen und dabei Verfassung, Gewaltenteilung und demokratische Institutionen bis zur bloßen Fassade entkernen, haben Kritiker wie Hans Herbert von Arnim früh angeprangert.

Wichtiger Teil der „Beute“ ist der aus Zwangsgebühren üppig finanzierte öffentlich-rechtliche Rundfunk, der sich in einer Art Symbiose zum beiderseitigen Vorteil immer ungenierter in den Dienst von Partikularinteressen der von Arnim ausgemachten „politischen Klasse“ stellt.

Bundeskanzlerin Angela Merkel – Thilo Sarrazin hat sie anläßlich der Vorstellung seines jüngsten Buches so knapp wie vernichtend als „Inbegriff des Unheils für Deutschland“ bezeichnet – hat durch historische Fehlentscheidungen diese Entwicklungen zur umfassenden Staatskrise beschleunigt. Die drei großen Rechtsbrüche, die sie zu verantworten hat – von den vielen kleineren zu schweigen –, greifen so tief und schmerzhaft in die Grundrechte der Bürger ein, daß sich das Ausmaß der Krise nicht länger verheimlichen läßt.

Die Euro-„Rettung“ hat die Tür zum europäischen „Superstaat“ weit aufgestoßen – zu Lasten der Nationalstaaten und ihrer Staatsvölker, der eigentlichen demokratischen Souveräne auf dem Kontinent, deren Entmündigung Brüssels zentralistisch eingestellte Eurokraten beharrlich betreiben.

Die Nullzins- und Billiggeld-Politik der Europäischen Zentralbank ist ein direkter Angriff auf das deutsche Volksvermögen und Motor einer „Transferunion“ zur kontinuierlichen Umverteilung von Nord nach Süd, von Bürgern zu Finanzindustrie und Staatshaushalten. 

Die Wohlstandsverluste für Deutschland belaufen sich nach Schätzungen schon jetzt auf einen dreistelligen Milliardenbetrag, die Haftungsrisiken haben die Billionengrenze erreicht. Die deutschen Privatvermögen schrumpfen inzwischen auch real.

Die „Energiewende“ hat den Deutschen die höchsten Energiepreise Europas bei schwindender Versorgungssicherheit beschert, knöpft Bürgern und Unternehmen jährlich zweistellige Milliardenbeträge für die Förderung unsinniger Doppelstrukturen ab und treibt energieintensive Industrien samt wertvollen produktiven Arbeitsplätzen aus dem Land.

Und schließlich die unkontrollierte illegale Einwanderung von Millionen Menschen aus außereuropäischen Kulturkreisen, die das Land stärker und radikaler verändert als jede Fehlentscheidung zuvor, und das nicht zum Guten.

Nur ein verschwindend geringer Prozentsatz der als „Asylbewerber“ Eingereisten ist tatsächlich verfolgt und damit asylberechtigt, nur ein Bruchteil wird je in Arbeitsmarkt und Gesellschaft integrierbar sein.

Abschiebungen und Zurückweisungen finden faktisch nicht statt. Geltendes Recht ist seit Jahren willkürlich außer Kraft gesetzt und wird vorsätzlich nicht mehr angewandt.

Schlimmer noch: Es scheint zunehmend zweierlei Recht zu gelten. Wer die Regeln anerkennt, wird streng gemessen und bestraft. Neuankömmlinge, die den Rechtsstaat und seine Werte schon vom Zeitpunkt ihrer Ankunft an offen mißachten, werden nicht selten mit Samthandschuhen angefaßt. „Haßverbrechen“ gegen Migranten werden hart geahndet; bei Übergriffen von Zuwanderern auf Einheimische ergehen immer wieder unbegreiflich milde Urteile, und Straftäter müssen mitunter selbst bei ellenlangem Deliktregister weder Haft noch Abschiebung fürchten.

Das untergräbt den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft und zerstört die Rechtssicherheit. Steigende Kriminalität, Terrorgefahr und Unsicherheit im öffentlichen Raum und vorauseilende Islamisierung, die durch den anhaltenden ungeregelten Zustrom muslimischer Migranten mit archaischen Kultur- und Wertvorstellungen noch beschleunigt wird, bedeuten für rechts­treue Einheimische und integrierte Einwanderer, und besonders für die Frauen, einen täglich spürbaren Verlust an Freiheit, Bedrohung des Eigentums und selbst Gefahr für Leben und körperliche Unversehrtheit.

Mit anderen Worten: eine Bedrohung ebenjener unveräußerlichen Grundrechte, auf denen eine freiheitliche, bürgerliche Gesellschaft beruht.

Das Mißtrauen gegenüber den Regierenden wächst. Es kommt aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft, aus ebenjener Mittelschicht, die von der herrschenden Politik der alten und neuen Sozialisten und Halbsozialisten in ihren Grundlagen bedroht wird.

Jahre nach dem verhängnisvollen „Wir schaffen das!“ von Bundeskanzlerin Angela Merkel ist das einst wohlgeordnete Deutschland ein zutiefst zerrüttetes und gespaltenes Land. Die Bonner Republik ist Geschichte, die „Berliner Republik“, wenn es sie denn je gab, verwandelt sich in der Spätphase der Regierung Merkel in einen gescheiterten Staat.

Auf Kritik und spontanen bürgerlichen Protest gegen den Kontroll- und Sicherheitsverlust antworten etablierte Politik und regierungstreue Medien mit Belehrungen, Zurechtweisungen und politisch korrekter Stigmatisierung. Es geht zweifellos zu weit, hier bereits eine „DDR 2.0“ heraufziehen zu sehen.

Gleichwohl muß daran erinnert werden, daß das Demonstrationsrecht im klassischen liberalen Verständnis ein Freiheitsrecht der Bürger gegen Übergriffigkeiten der Obrigkeit ist. Wenn auf der einen Seite Bürger bei der Wahrnehmung dieses Rechts mit Verwaltungsschikanen und durch geduldete linksextreme Schlägertrupps eingeschränkt werden, während andererseits Politiker und Staatskünstler zu Massenkundgebungen zur Bekräftigung der Regierungslinie mobilisieren, stimmt die Balance der Freiheit zwischen Bürger und Staat nicht mehr.

„Ein besonderer psychologischer Essay wird eines Tages über die fatalistische herdenmäßige Dulderfähigkeit und Geduldausdehnbarkeit im deutschen Volk zu schreiben sein“, notierte Erich Kästner im Juni 1945 in seinem „Kriegstagebuch“. Der Satz könnte, leider, aktueller nicht sein. Doch jede Geduld hat ein Ende.

Die Deutungshegemonie grün-linker Volkspädagogen, die widersprechende Meinungen aus dem politischen Diskurs auszugrenzen, zu diffamieren oder gar zu kriminalisieren trachten, zerbröckelt unter den harten Realitäten der Staatskrise. Die „Faschismus“-Keule, mit der ihre Gralshüter immer wahlloser und panischer um sich schlagen, um ihre schwindende Interpretationsmacht zu verteidigen, wird morsch. 

Und das Mißtrauen gegenüber den Regierenden wächst. Es kommt aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft, aus ebenjener Mittelschicht, die von der herrschenden Politik der alten und neuen Sozialisten und Halbsozialisten in ihren Grundlagen bedroht wird. Es wächst dort schneller, wo die Erfahrung mit der letzten sozialistischen Diktatur und ihren Propagandaritualen frischer ist. Und das ist grundsätzlich ein positives Zeichen, ein Zeichen des wiedererstarkenden Freiheitswillens.

Dieses Freiheitsbewußtsein und die Prägung durch die bürgerliche Mittelschicht, der ich entstamme, ist auch mein politischer Antrieb. Aus der Überzeugung, daß die Achtung von Freiheit und Eigentum, Ordnung und die unbedingte Herrschaft des Rechts unabdingbare Voraussetzungen für Wohlstand und eine gerechte Gesellschaft sind, bin ich in die Politik gegangen. Mißstände aufzudecken und beim Namen zu nennen ist dabei nur der erste Schritt.

Das Ziel ist, dieses Land zu reformieren und wieder auf jene Grundlagen zu stellen, auf denen Deutschland sich nach den Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts erneut die Achtung und den Respekt der Welt erworben hat.






Dr. Alice Weidel, Jahrgang 1979, ist Co-Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion und Mitglied im Bundesvorstand der Partei. Die Diplomkauffrau und Volkswirtin ist Mitglied der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft.

Alice Weidel: Widerworte. Gedanken über Deutschland, Plassen-Verlag, Kulmbach 2019, 147 Seiten, 14,99 Euro. Der Beitrag auf dieser Seite ist – mit freundlicher Genehmigung von Autorin und Verlag – ein Auszug aus dem Buch.

Foto: „Energiewende“, Eurokrise und Masseneinwanderung: Während der vier Kabinette Merkel seit 2005 wurden die Institutionen schleichend zerstört und die Grundlagen für Wohlstand und Wirtschaftskraft ausgehöhlt