© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/19 / 22. März 2019

„Morgen wird Revolution sein!“
Totalitarismus: Im März 1919 gründete Mussolini die ersten faschistischen Kampfbünde / Drei Jahre später wurde er italienischer Ministerpräsident
Karlheinz Weißmann

Man nannte sie „Sansepolcristi“ und ihre Einheit den „fascio primogenito“. Jene etwa zweihundert Männer und sechs Frauen, die am 23. März 1919 in Mailand, im Gebäude der Industrie- und Handelsallianz an der Piazza San Sepolcro den „erstgeborenen Fascio“ bildeten. Es handelte sich vor allem um Kriegsteilnehmer, besonders prominent die Stoßtruppkämpfer, die „Arditi“, Nationalisten und einige „Futuristen“, Verfechter einer avantgardistischen Kunstrichtung, die schon in der Vorkriegszeit mit ihrer Ästhetik der Geschwindigkeit und der Gewalt von sich reden gemacht hatte. Unter den 85 identifizierbaren Teilnehmern gab es 21 Schriftsteller und Journalisten, 20 Angestellte, zwölf Arbeiter, fünf Handwerker und vier Lehrer, die übergroße Mehrzahl war jung, unter 40 Jahre alt.

Sie bildeten die Keimzelle einer neuartigen politischen Bewegung: des Faschismus. Neuartig war sie insofern, als sie nicht dem klassischen Spektrum einzuordnen war. Ihr Führer – Benito Mussolini – hatte wenige Tage zuvor in seiner Zeitung Popolo d‘ Italia das Programm der Fasci di Combattimento, der „Kampfbünde“, mit den Worten umrissen: Man werde eine „Anti-Partei“ schaffen, die sich gleichermaßen „gegen die neuerungsfeindliche Rechte und (…) gegen die destruktive Linke“ richte. Das heißt, man lehnte die Klerikalen, die Konservativen und die Liberalen genauso ab wie die Sozialisten gemäßigter oder radikaler Tendenz.

Dabei war das bürgerliche System der Hauptfeind, die Gegnerschaft zum Bolschewismus trat eher zurück. In seiner Ansprache auf der Gründungsversammlung erklärte Mussolini ausdrücklich, daß man ihn nicht wegen seines revolutionären Charakters bekämpfe, sondern weil es sich um eine „typisch russische Erscheinung“ handelte, deren Methoden für Italien schädlich seien. Das war keine Absage an die politische Gewalt als Mittel oder die Arbeiterschaft als Trägerin des Umsturzes. Vielmehr sollte der Faschismus das Proletariat von der Linken „absprengen“, es dem nationalen Gedanken unterstellen, um die wahre Revolution voranzutreiben, die nur die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln bedeute.

Seine Ideologie speiste sich aus verschiedenen Quellen

Schon im Januar 1915 hatte Mussolini proklamiert: „Heute ist Krieg: morgen wird Revolution sein!“ Das war ein neuer und für viele unerwarteter Ton bei einem Mann, den man bis dahin als entschiedenen Sozialisten gekannt hatte, der von seinen Anhängern als „duce“, als „Führer“, und als kommender Mann der Linken Italiens betrachtet worden war. Mussolini hatte sich für die Sache inhaftieren lassen und dem Wehrdienst entzogen, verbrachte Jahre im Schweizer Exil und lebte dann das Leben eines Parteisoldaten als Agitator, Journalist und äußerst erfolgreicher Chefredakteur des sozialistischen Avanti!. Daß er kein Marxist war, sondern seine Ideologie aus verschiedenen Quellen speiste – auch dem Anarchismus und nicht zuletzt der Philosophie Nietzsches –, tat dem keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil, denn der Partito Socialista Italiano (PSI) schien sich wie die meisten Gruppierungen der Linken mit dem Parlamentarismus arrangieren zu wollen, und wer wie Mussolini am Ziel der Revolution festhielt, mußte nach neuen Impulsen suchen.

Von großer Bedeutung war für ihn deshalb die Lehre des Franzosen Georges Sorel, der zu den Theoretikern des Syndikalismus gehörte. Der setzte nicht auf die Parteien, sondern auf die Gewerkschaften und die Arbeitsniederlegung als Wegbereiterin des Umsturzes. Gleichzeitig pflegte Sorel eine außerordentliche Skepsis gegenüber dem Materialismus und betonte die ideale Bedeutung des „Mythos“, des großen Kampfgemäldes, das die Massen mobilisieren würde. Sein Ziel war auch kein befriedetes Utopia, sondern eine strenge Gesellschaftsordnung nach dem Muster der römischen Republik. Sorel wußte von Mussolini und soll 1912 in einem Brief geäußert haben: „Unser Mussolini ist kein gewöhnlicher Sozialist. Glauben Sie mir: Sie werden ihn eines Tages an der Spitze eines heiligen Bataillons mit dem Degen die Fahne Italiens grüßen sehen.“

Ein knappes halbes Jahr nach Kriegsausbruch deutete manches darauf hin, daß sich diese Prophezeiung erfüllen konnte. Zwar hatte Mussolini im Sommer 1914 mit dem Generalstreik gedroht, falls die Regierung in den Krieg eintrete, aber da ging es um eine Allianz mit den „reaktionären“ Mittelmächten Deutschland und Österreich-Ungarn. Jetzt handelte es sich um die Möglichkeit, mit der „fortschrittlichen“ Entente zusammenzugehen und die Gebiete bis zum Brenner zu erobern, die die italienischen Nationalisten als „Irredenta“ – den „unerlösten“ Teil Italiens – betrachteten.

Als ihm die Sozialistische Partei auf dem neuen Kurs nicht folgte, sondern das enfant terrible ausstieß, gründete Mussolini am 12. Dezember 1914 aus Republikanern, Gewerkschaftlern, Syndikalisten, Anarchisten und anderen Abtrünnigen einen „Bund“, italienisch: fascio. Wenige Wochen später entstanden die Fasci d’ Azione Rivoluzionaria, die „Bünde der revolutionären Aktion“. Der Begriff hatte für die Linke zu dem Zeitpunkt keinerlei Anrüchigkeit. Er wurde traditionell verwendet, um lockere, oft ad hoc geschaffene Gruppierungen zu bezeichnen, die sich auf die Verwirklichung eines konkreten Ziels beschränkten, aber nicht in Konkurrenz zur Partei treten wollten.

Diese erste „faschistische Bewegung“, wie Mussolini sie ausdrücklich nannte, blieb aber ohne Bedeutung. Was auch damit zusammenhing, daß sich ihre führenden Mitglieder, darunter Mussolini, nach dem Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 freiwillig zu den Waffen meldeten. Die Erwartung allerdings, daß der Krieg seine revolutionäre Wirkung entfalten würde, trog. Die Nation entstand nicht neu und verjüngt, das Bürgertum versagte vor den imperialen Forderungen der „Interventionisten“, das Proletariat wandte sich nach dem Waffenstillstand rasch wieder den Mühen des Alltags und pazifistischen Träumen zu oder sympathisierte mit den Ideen, die aus Rußland kamen. Angesichts dessen entstand in Italien Anfang 1919 eine heterogene Bewegung zur „Verteidigung des Sieges“, als deren Fokus die Faschisten auftraten.

Das bedeutete jedoch keinen Positionswechsel Mussolinis von links nach rechts. Seinem Selbstverständnis nach war und blieb er Sozialist. Wahrscheinlich wurde die erste von zahllosen Fabrikbesetzungen des März 1919 von seinen Anhängern durchgeführt. Jedenfalls versicherte Mussolini die Arbeiter seiner Solidarität, und auch das ausgesprochen linke „Programm von San Sepolcro“, das ein Vierteljahr nach Bildung der Kampfbünde veröffentlicht wurde, zeigte seine Handschrift: demzufolge waren die Fasci di Combattimento republikanisch, sozialistisch, demokratisch.

Erhebung gegen die liberale Demokratie

Ausdrücklich wurde nicht nur die Beseitigung der Monarchie und die Entmachtung der sie stützenden Kirche verlangt, sondern auch das allgemeine Wahlrecht unter Einschluß der Frauen, die teilweise Enteignung des Privateigentums und die Übernahme der Kontrolle der Produktion durch „technische Räte“, ein Begriff, der kaum zufällig an die russischen „Sowjets“ erinnerte. Daß man es nicht mit den üblichen Forderungen der äußersten Linken zu tun hatte, zeigte erst der zweite Teil des Programms, der sich ausdrücklich zum Nationalismus als Prinzip bekannte, die Entschlossenheit bekundete, das Erbe des „revolutionären Krieges“ zu wahren und gegen die Völkerbundpläne des US-Präsidenten Wilson ebenso Front zu machen wie gegen die eigene Regierung.

Trotzdem waren die Fasci zu diesem Zeitpunkt nur als Provisorium gedacht. Bezeichnend ist, daß Mussolini nach dem Scheitern der Faschisten bei der Parlamentswahl vom September 1919 sofort an die Auflösung des Bundes dachte, und auch, daß einer seiner engsten Mitarbeiter, Cesare Rossi, ein ehemaliger Syndikalist, Vorbereitungen für die Bildung einer „national-sozialistischen“ Arbeiterpartei traf, in der die Fasci aufgehen sollten. Wenn Mussolini in dieser Phase die sozialistische die eigentlich „reaktionäre“ Partei Italiens nannte, dann aus Enttäuschung. Eine Enttäuschung, die darin wurzelte, daß der PSI sich unwillig oder unfähig zeigte, das Vermächtnis des Risorgimento zu erfüllen und die Einheit Italiens zu vollenden.

In der Linken sahen die Faschisten jedenfalls nicht ihren Hauptfeind; ihre frühe Geschichtsschreibung hat um diesen Sachverhalt noch gewußt, wenn sie feststellte: „Gegen wen erhoben sich unsere Fasci des Jahres 1919? Gegen die herrschende Kaste der liberalen Demokratie, die Italien fast unbewaffnet in den europäischen Krieg geschickt hatte (…) Gegen diese wandte sich der Faschismus und nicht gegen die Umstürzler, die ihre Hand noch nicht an jene feige und autoritätslose herrschende Klasse gelegt hatten.“ (Gioacchino Volpe)

Mussolini stand unmittelbar nach Kriegsende wie die meisten seiner Zeitgenossen unter dem Eindruck einer säkularen Linkstendenz. Die bestimmte das politische Geschehen und erklärt nicht nur seine national-sozialistischen oder sozial-nationalistischen Vorstellungen, sondern auch die Bekundungen des Respekts gegenüber Lenin und den Kommunisten. Erst 1920/21 änderte er seine Haltung. Da hatten die Massenstreiks und Fabrikbesetzungen des „roten Doppeljahrs“ aufgehört, der Elan der Linken war erlahmt, und bei den Gemeinderatswahlen im Herbst 1920 ging der PSI von 32,4 auf 24,3 Prozent der Stimmen zurück, während die antisozialistische Blockbildung seiner Gegner Erfolge erzielte.

Die Bourgeoisie hatte die Unruhen zwar noch in lebhafter Erinnerung, begann sich aber, trotz der Schwäche der liberalen Regierung, vom Albdruck einer drohenden sozialistischen Revolution zu befreien. Dabei war sie auf der Suche nach Verbündeten, die Bereitschaft zeigten, auch grobe Arbeit zu verrichten. Deshalb fiel ihr Blick auf die Faschisten, die man sich als eine Art von „Weißer Garde“ halten wollte.

Wie die weitere Entwicklung zeigte, war das eine Fehleinschätzung der Bewegung, vor allem aber Mussolinis. Wenn es nötig war, folgte er Machiavellis Rat und verhielt sich wie ein „Fuchs“, wenn der „Löwe“ nicht siegen konnte. Drei Jahre nach Gründung der Fasci di Combattimento würde er die Macht ergreifen, oder besser ergreifen lassen. Denn seine Männer hatten die Hauptstadt schon erreicht, als er sich ihrem „Marsch auf Rom“ anschloß. Er folgte ihnen im Zug – von Mailand aus, der Geburtsstadt des Faschismus.