© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/19 / 22. März 2019

Terror eines Unbedingten
Attentat: Ein Burschenschafter ermordete vor 200 Jahren den Dramatiker August von Kotzebue
Eberhard Straub

Der politische Terrorismus ist eine genuin europäische  Erscheinung seit der Französischen Revolution. Es waren die Revolutionäre, die auf die Herrschaft des Schreckens vertrauten, um ihre Gegner und Feinde einzuschüchtern oder zu liquidieren. Wer die Demokratie und die Republik bekämpfte, erwies sich unbedingt als Feind der Vernunft sowie der Tugend und damit Frankreichs, dessen besonderer Auftrag es sei, die Menschheit vom Laster und jeder Tyrannei zu erlösen.

Nur eine kämpferische Tugend, die sich mit dem Terror verbündet, kann antifranzösischer Umtriebe Verdächtige entmachten. Eine Tugend, die nicht schrecklich ist, befleckt sich mit Sentimentalität und verfinstert die Strahlen der aufklärenden Sonne. Erfüllt von der Energie eines solchen Fanatismus demokratischer  Reinheit und Vernunft tötete am 23. März 1819 der Jenaer Burschenschafter Karl Ludwig Sand in Mannheim den Schriftsteller August von Kotzebue. Nachdem er vergeblich versucht hatte, auch sich zu töten rief er schwer verletzt: „Hoch lebe mein deutsches Vaterland und im deutschen Volke Alle, die den Zustand der reinen Menschheit zu fördern streben!“

Politisch war Kotzebue längst bedeutungslos

Der revolutionäre Terror, der die meisten unter den gebildeten Deutschen an der Revolution und der vernünftigen Besonnenheit französischer Demokraten zweifeln ließ, erreichte mit diesem Attentat Deutschland, und der Terrorist wie seine Gefährten waren Deutsche, deutsche Bildungsbürger und Akademiker. Der unauffällige, im Umgang liebenswürdige Karl Ludwig Sand fühlte sich dazu verpflichtet, Deutschland und Europa von dem Dämon Kotzebue zu erretten, vor dessen Umtrieben in russischen Diensten liberale Zeitungen unentwegt warnten.

Junge Radikale sind immer auf die Alten angewiesen, die mit ihren Ängsten und Hysterien die Stimmungen, eben die öffentliche Meinung formieren oder besser deformieren. Der angebliche Spion und Verteidiger der Despotie, August von Kotzebue, geboren 1761 in Weimar, wurde von liberalen Doktrinären beschuldigt, als Lobredner Kaiser Alexanders und unverhohlener Rußland-Versteher gegen sämtliche Tendenzen konstitutioneller Freiheit zu arbeiten, um Deutschland als Dunkeldeutschland williger Untertanen zu erhalten, das jeden Fortschritt in Europa erfolgreich verhindere und die russische Vorherrschaft stabilisiere. 

Sein Weimarer Literarisches Wochenblatt, in dem er keinen Hehl aus seiner Sympathie für Metternich und eine Politik im Namen des monarchischen Prinzips gegen die unberechenbare Volkssouveränität und die Verfassungsbewegungen machte, bestätigte jedem eifernden Menschenrechtler, daß der populäre Dramatiker mittlerweile als ein Feind des Menschengeschlechts jedes Recht auf Geduld verspielt habe. Dabei war der äußerst geschickte Verfertiger ganz neuartiger Gesellschafts- und Konversationskomödien – deshalb eine europäische Berühmtheit – und zeitweilige russische Beamte politisch längst völlig bedeutungslos geworden und hatte in St. Petersburg jeden besonderen Einfluß verloren, sofern er ihn je besaß. Der undurchschaubare Agent, der überall als Verräter und Intrigant mitspielte, war dennoch ein Schreckgespenst im dauernden Narrenlärm der Tagesblätter, der Goethe zunehmend verdrießlich stimmte. 

Verständnis für die Motive des Attentäters

Das Attentat stand im Zusammenhang mit verantwortungsloser Dämonisierung eines politisch harmlosen, wenn auch eitlen Schriftstellers, der als Weltbürger ganz praktisch und vernünftig mit Rußland als Großmacht und nicht zu übersehendem Teil Europas rechnete. Das Wahngebilde der Journalisten und anderer Öffentlichkeitsarbeiter sorgte  gerade nicht für Aufklärung, sondern für aufgeregte Unruhe, ungemein günstig für den entschlossenen Aktivismus eines zeitunglesenden Freundes der Freiheit, der in Rußland den offenkundigen Feind jeder Mitmenschlichkeit und Emanzipation von Bevormundung verdammen mußte. Liberale Sympathisanten in den Qualitätsmedien mißbilligten zwar den Mord, aber sie verstanden die edlen Motive, die einen von allen niedrigen Absichten unbefleckten Idealisten zu einer solchen Heldentat nötigten. Ein Held ist, wer sein Leben Großem opfert und „minderwertigem“ Leben bei solch erhabener Gesinnung das Recht auf Leben abspricht. 

Karl Ludwig Sand gehörte mit seinem ethischen Rigorismus zu der radikalen Minderheit der „Unbedingten“ unter den burschenschaftlich zusammengeschlossenen Studenten in Gießen, später in Jena, die in Karl Follen ihren charismatischen Führer gefunden hatten. Der männlich-schöne, hinreißend beredte und unbestechliche, dogmatische Republikaner und Demokrat verwarf das bestehende gesellschaftliche System als korrupt und niederdrückend. Erst ein freies Volk auf freiem Grund ermögliche ein neues Selbstgefühl, das sich – in Anlehnung an die französischen Nationalisten – wahrhaft und wehrhaft diesseits des Rheins in entschlossener Deutschheit äußern könne. Im Nationalismus offenbarte sich ja die allgemeine Menschlichkeit in jeweils besonderer Form, wie überall indessen verkündet wurde. Deutschheit, Vernunft und Sittlichkeit ergänzten im belebenden Austausch einander und verschmolzen zur Tugend, die über sämtliche herzlosen Egoismen triumphiere, die sich der stolzen Freiheit aller nationalen Selbstbewußten in der Fülle ihrer Eigenarten widersetzen. 

Karl Ludwig Sand begriff sich in der Nachfolge Christi

Der unerschöpfliche Einzige mit seinem Eigentum wurde zugleich zum Ausdruck der nicht minder einzigartigen Nation und ihres unerschöpflichen Volksgeistes, der jeden, der ihm folgte, vermenschlichte und vom Zwange trüber Leidenschaften befreite. Diese neuen wahren Menschen und wahren Deutschen sind alle gleich in einem Reich der Freiheit, die alle vereinheitlicht unter der Herrschaft der einen humanisierenden Vernunft in der einen, unteilbaren Nation als Teil der Gemeinschaft gleicher, freier, sich ihrer selbst bewußten Völker. Dies neue Selbst unverdorbener Eigenart, schön und herzbezwingend, entspringt unbedingt aus „der Überzeugung“, was heißt aus der Stimme des Gewissens, einem Organ der mit sich im reinen befindlichen Vernunft. 

Der Gerechte, in seiner ureigenen Überzeugung gerechtfertigt, darf keine Rücksichten nehmen, denn die Verwirklichung der Vernunft, so wie sie ihn erleuchtet, ist sittliche Notwendigkeit, bei der jedes Mittel recht ist, auch Lüge, Betrug oder Mord, aber auch das Opfer des eigenen Lebens, um die übrigen zu erlösen und ihnen zur Auferstehung aus geistiger Not und Sklaverei zu verhelfen. Die Unbedingten konnten mühelos in diesem Sinn Christus demokratisieren, der als Held unbedingter Hingabe an seine Sendung für das Heil einer kommenden Gemeinschaft aufrechter Demokraten gestorben sei. Karl Ludwig Sand begriff auf diese Art seine Nachfolge Christi und verstand seinen Terrorismus der Vernunft als Akt der Liebe, weil er durch seine selbstlose Tat den Weg zu einer neuen Verfassung  aller Deutschen ebene, die zu Freiheit  und Vernunft berufen sind. 

Für diesen radikalen Verfassungspatriotismus, in dem die wahrhafte Freiheit eines Christenmenschen mit der Idee wehrhafter Demokraten in eins gesetzt wurde, standen symbolisch die Farben Schwarz, Rot und Gold: aus der Knechtschaft Nacht durch blutigen Kampf  zum goldenen Tag der Freiheit. In dem Kampf gegen Tyrannen aller Art ist alles erlaubt, in ihm bewährt sich begeisternd in neuester akademischer Freiheit die uralte und herrliche Ritterschaft der immer jungen Germanen. Professoren, Schön- und Schwarmgeister in den Zeitschriften, Theologen, sogenannte kritische Köpfe, die zum Ärger Hegels die sittliche Welt in einen Brei des Herzens auflösten, vernahmen in dem Fanatismus gutmenschlicher Verworrenheit die richtende Stimme der Geschichte.

Denunziation infolge der Karlsbader Beschlüsse

Die beiden Großmächte Österreich und Preußen folgten allerdings herzlos den Geboten der Staatsräson und praktischen Vernunft. Sie nahmen den Kampf gegen den Terror auf mit den  Karlsbader Beschlüssen vom August 1819, die später vom Deutschen Bund in einem „fragwürdigen Eilverfahren“ (Thomas Nipperdey) ratifiziert wurden. In Mainz wurde eine Zentralkommission eingerichtet, die Nachrichten sammelte und prüfte, die auf systemgefährdende Bestrebungen hinweisen konnten. Die Denunziation und der Eifer, politisch unzuverlässige Gedanken aufzuspüren, immer eine verlockende Aufgabe für Streber und selbsternannte Wächter der politischen und moralischen Ordnung, gewannen viel Spielraum.

Aber Juristen, Staatsmännern und Beamten, rechtsstaatlich gesonnen und zu freier Selbständigkeit angehalten, widerstrebte solch tyrannische Gesinnungsschnüffelei. „Die Gedanken sind frei“ – das sangen Studenten, davon waren durch Bildung befreite Geister in Gerichten und Amtsstuben durchdrungen. Der Kampf gegen den Terror der unbedingt Überzeugten wurde nicht mit einem ähnlichen staatlichen Gesinnungsterror beantwortet. Der angegriffene Staat schützte, trotz zuweilen erheblicher Bedenken, die Freiheit und damit seine Sicherheit. Ein Amt für Verfassungsschutz machte sich damals bald lächerlich und unbedingt überflüssig.