© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/19 / 22. März 2019

Die Dialektik des Fortschritts
Der ehemalige EKD- Ratsvorsitzende Wolfgang Huber porträtiert Dietrich Bonhoeffer und dessen Denken im Verweis auf die Gegenwart.
Herbert Ammon

Der frühere Ratsvorsitzende der EKD, Wolfgang Huber, ist fraglos einer der besten Kenner der Schriften des Märtyrer-Theologen Dietrich Bonhoeffer. Das vorliegende Buch ist als Porträt, sprich: als zeitlos gültiges Bild Bonhoeffers, nicht primär als Biographie konzipiert. Gleichwohl kommt die Biographie nicht zu kurz.

Besonders ansprechend erscheint – neben dem zweiten Kapitel „Bildungswege“ – das vorletzte Kapitel „Polyphonie des Lebens“, in dem der Autor die Rolle der Musik im Leben Bonhoeffers behandelt. Aufgewachsen in kulturprotestantischem Milieu, in einer großen Familie mit einem agnostischen Vater und einer frommen Mutter, entschied sich Bonhoeffer bereits als Konfirmand für die Theologie.Trotz hoher Begabung und Perfektion als Pianist kam für den jungen Bonhoeffer eine Karriere als Musiker nicht in Frage.

Lebensgeschichte und Entfaltung seiner Theologie fallen bei Bonhoeffer zusammen. Sein Denken war geprägt von schwer auflösbaren Widersprüchen zwischen moderner, liberaler Fortschrittstheologie und neo-orthodoxen Begriffen von Gottes „Offenbarung“, die er unter dem Eindruck der Luther-Renaissance nach dem Ersten Weltkrieg sowie des „Römerbriefes“ von Karl Barth betrachtete. Was Bonhoeffers kulturkritische Aussagen anbelangt – wie sie reichlich sein unvollendetes Hauptwerk „Ethik“ durchziehen –, so fehlt in Hubers Aufzählung von Lektüreeinflüssen der Name Oswald Spengler.

Aus heutiger Perspektive fällt Huber ein strenges Verdikt über Bonhoeffers frühe Aussagen als Vikar der Auslandsgemeinde in Barcelona (1928/29): „Das Ausmaß, in dem (er) ... sich mit solchen Überlegungen noch in den Ideen von 1914 verfängt, ist erschreckend.“ Differenziert behandelt Huber dessen bei Auslandsaufenthalten in New York und in London sowie im ökumenischen Dialog mit seinen ausländischen Freunden – namentlich Reinhold Niebuhr sowie Bischof George Bell – entwickelte Position zum Thema „christlicher Pazifismus“  im Gegensatz zu radikal-pazifistischen Ausdeutungen Bonhoeffers.

Huber erhellt dem Leser die politische, geistige und besonders die moralische Situation der Zeit nach 1933, indem er zeigt, daß und wie Bonhoeffer sich just nachdem er 1929 an die Berliner Universität zurückkehrt, wieder von ihr abwendet. Die Abkehr resultierte aus Bengt Seebergs Agitation gegen Bonhoeffer. Dieser war Enkel von Bonhoeffers national und republikfeindlich gesinntem Doktorvater und Dekan der Theologischen Fakultät, Reinhold Seeberg. Als Sprecher der theologischen Studentenschaft erklärte Bengt Seeberg dem Wissenschaftsminister Bernhard Rust, daß Bonhoeffers Rolle am Predigerseminar der Bekennenden Kirche in Finsterwalde (bei Stettin) mit akademischer Lehrtätigkeit unvereinbar sei. Rust entzog Bonhoeffer im August 1936 die Lehrbefugnis.

Insofern das Konzept des Buches über die bloße Rekonstruktion der geistigen Prägungen und Denkbewegungen des Theologen Bonhoeffer hinausweist, ist der Leser gehalten, sich mit den auf die Gegenwart zielenden Aussagen des Theologen Huber auseinanderzusetzen. Ein solches Unterfangen stellt den Rezensenten vor ein Dilemma: Kritik an Hubers aktualisierenden Deutungen dürfte hauptsächlich in konservativen, heute meist als evangelikal bezeichneten Kreisen auf Beifall stoßen.

Dort findet die Bonhoeffer-Biographie des amerikanischen Journalisten Eric Metaxas – in deutscher Übersetzung bereits in sechster Auflage – rege Verbreitung. Eine solch schlichte Interpretation der Bonhoefferschen „Ethik“ ist indes ebenso unstatthaft wie die von progressiver Seite vielfach betriebene ahistorische Extrapolation von Bonhoeffers Aufzeichnungen und Briefen aus dem Gefängnis (unter dem Titel „Widerstand und Ergebung“ erstmals herausgegeben 1951 von Eberhard Bethge), in denen Begriffe wie „religionsloses Christentum“ und „Verzicht auf die Arbeitshypothese Gott“ auftauchen.

Es ging ihm um ein schönes,  echtes und frommes Deutschland

Vor dem Hintergrund der deutschen und europäischen Katastrophe stand Bonhoeffers Denken im Horizont der Sinnfragen des 20. Jahrhunderts. In der „Ethik“ formulierte er unleugbar konservative Gedanken zum großen Nietzsche-Thema des Nihilismus. Die Wurzeln der alles durchdringenden „abendländischen Gottlosigkeit“ erkannte er in der Französischen Revolution, in der Dialektik von „befreiter Ratio“, Erklärung der Menschenrechte und modernem Nationalismus. An derlei Stellen der „Ethik“ – etwa zu Bonhoeffers Ablehnung der Abtreibung – weist Hubers Interpretation Lücken auf. Auch fehlt jeglicher Hinweis auf das – auch von dem niederländischen Ökumeniker Willem Visser ’t Hooft bezeugte – patriotische Motiv im Denken und Handeln Bonhoeffers. Dem Widerstandskämpfer Bonhoeffer ging es um „ein schönes, echtes und – frommes Deutschland“, wie er es in einem Geburtstagsbrief an Christoph Bethge (18. Juni 1942) schrieb.

Nicht von ungefähr schließt Bischof Huber sein Buch mit „dem geistlichen Gedicht des 20. Jahrhunderts“, das Bonhoeffer, nach dem Fehlschlag des 20. Juli 1944 illusionslos einsitzend und ständigen Verhören ausgesetzt, im Gestapo-Gefängnis im Prinz-Albrecht-Palais (heute „Topographie des Terrors“), seinem Weihnachtsbrief an die Verlobte Maria von Wedemeyer beilegte. In „Von guten Mächten“ spricht der Dichter, vor Augen den „schweren Kelch, den bittern“, unangefochten von dem ewigen Gott.

Schlüssig sind Hubers Explikationen zu Bonhoeffers Reflexionen über das „Ende der Religion“ sowie die „mündig gewordene Welt“, wenn er schreibt: „Der Rede von der mündig gewordenen Welt oder dem mündig gewordenen Menschen liegt ein Deutungsschema zugrunde, das die Neuzeit von einer Dynamik des Fortschrittsglaubens geprägt sieht, ohne dessen Dialektik zu beachten.“

Problematisch – da reines Postulat – werden die Ausführungen, wo er den Blick auf Bonhoeffers Christologie richtet. Für Bonhoeffer sei „das Freiheitsbewußtsein des mündigen Menschen, auch wenn es sich religionslos artikuliert, der Inanspruchnahme durch Christus näher als ein Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, selbst wenn es religiös daherkommt“.

Die Crux dieser Ausdeutung der auf Christus zentrierten Bonhoefferschen Theologie liegt in dem Faktum, daß sie letztlich nur für christlich-religiös gestimmte Gemüter verbindlich sein kann. Für die vorherrschende, vom realen Atheismus beziehungsweise Agnostizismus oder von Indifferenz geprägte Gemütslage moderner Menschen – man denke an die Freizeitgesellschaft oder den Großteil unseres politischen Personals – dürften derlei Aussagen ohne Belang sein. Was parallel zum anhaltenden Exodus aus den Kirchen realiter stattfindet, ist die gerade auch von kirchlicher Seite betriebene religiöse Aufladung komplexer wissenschaftlicher und politischer Themen – von der für 2050 angekündigten Klimaapokalypse bis zur Migrationsproblematik.

Notwendige Überlegungen zur Frage, wie dem Vordringen des voraufklärerischen Islam samt orientalischer Traditionen zu begegnen sei, sind in Hubers Buch nicht zu finden. Immerhin sprach der Autor als Bischof vor Jahren noch davon, ein Dialog mit dem Islam sei schwierig aufgrund dessen ungeklärten Verhältnisses zum Thema Gewalt. Daß der von Huber betonte ökumenische Dreiklang „Frieden, Bewahrung der Schöpfung, soziale Gerechtigkeit“ angesichts der weltpolitischen Bedingungen des 21. Jahrhunderts überzeugender, widerspruchsfreier Konzepte bedürfte, ist evident. Nur welche?

Schon vor dem Mauerfall standen theologische Aussagen Bonhoeffers für unterschiedliche Positionen, beispielsweise in der Kritik von DDR-Bürgerrechtlern an der von dem Bonhoeffer-Schüler Albrecht Schönherr – aus politischem Realitätssinn? – proklamierten „Kirche im Sozialismus“. Die anders gelagerten Fragen des 21. Jahrhunderts sind mit dem Bezug auf Bonhoeffer kaum zu lösen.

Wolfgang Huber: Dietrich Bonhoeffer. Auf dem Weg zur Freiheit. Ein Porträt. C.H. Beck, München 2019, gebunden, 336 Seiten, 25 Abbildungen, 26,95 Euro





Kurzbiographie: Dietrich Bonhoeffer

Dietrich Bonhoeffer wurde 1906 in Breslau geboren. Mit 24 Jahren habilitierte er in Theologie an der damaligen Friedrich-Wilhelms-Universität – der heutigen Humboldt Universität Berlin. Schon am Tag nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten – dem 1. Februar 1933 – griff er die nun Regierenden scharf an und forderte  etwa eine Begrenzung der Macht des Kanzleramts unter Adolf Hitler. Nach kurzer Flucht nach London kam er bereits 1935 zurück, um seiner heimischen Kirche zu helfen. Während des Krieges wurde ihm „wegen volkszersetzender Tätigkeit“ erst das Reden (1940), dann auch das Schreiben (1941) verboten. 1943 wurde er unter dem Vorwurf der „Wehrkraftzerzetzung“ verhaftet. Am 9. April 1945 wurde er im KZ Flossenbürg als vermeintlicher Mittäter des Hitler-Attentats am 4. Juli 1944 hingerichtet.