© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/19 / 22. März 2019

Heikles Wechselspiel
Der Bonner Völkerrechtler Matthias Herdegen beschreibt die internationale Ordnung zwischen den Polen Recht und Macht
Felix Dirsch

Zu den großen globalen Einschnitten der Gegenwart zählt die Neusortierung der Weltordnung, die sich ähnlich dramatisch auszunehmen scheint wie vor rund drei Jahrzehnten, als der damalige US-Präsident George H.W. Bush eine „New World Order“ ausrief. Damals konnte der Beobachter für einen Moment den Eindruck gewinnen, Umrisse einer künftig uni- statt bipolaren Weltordnung zeichneten sich ab. Dem war aber nicht so. Bald kristallisierte sich eine polyzentrische Struktur heraus.

Dieser Eindruck festigt sich in der unmittelbaren Gegenwart. Bedeutende Mächte wie China und Rußland streben zunehmend eine Ausweitung ihrer Einflußsphären an. Andere Länder, etwa die Vereinigten Staaten, wollen die multilateralen Beziehungen keineswegs schwächen oder gar destruieren, aber zumindest vermutete Benachteiligungen im Welthandel ausgleichen.

Angesichts einer solchen Situation verwundert es nicht, daß in den letzten Jahren vermehrt Studien über die Staatengemeinschaft und ihre Wandlungen erscheinen. Der Politologe Ulrich Menzel und der ehemalige Außenminister der USA, Henry Kissinger, sind stellvertretend zu nennen. Der Bonner Staats- und Völkerrechtslehrer Matthias Herdegen kann an solche Untersuchungen anschließen. Er verbindet die staatstheoretische mit der rechtlichen Sichtweise. Über die Betrachtungen sowohl des Normativen als auch des Faktischen nähert er sich der komplexen Thematik.

Zunehmender Abbau nationaler Souveränität nach 1945

In acht Kapiteln schildert der renommierte Jurist die Elemente der internationalen Staatenordnung. Die verschiedenen politologischen Schulen, die sich mit dem internationalen System beschäftigen, werden ausführlich erörtert, darunter vor allem die (neo-)realistische, die den Machtaspekt in den Mittelpunkt stellt; aber auch die idealistische, die eine Institutionalisierung und Verrechtlichung der internationalen Ordnung intendiert, wird berücksichtigt.

Traditionell kommt der nationalen Souveränität ein hoher Stellenwert im Völkerrecht zu. Erst nach 1945 ereignet sich eine epochale Wende: Die Möglichkeiten der (National-)Staaten werden beschnitten, etwa durch die UN-Charta. Das Gewaltverbot, das nur durch den UN-Sicherheitsrat aufgehoben werden kann, gilt zwar umfassend, ist aber in praktischer Hinsicht oft nur begrenzt wirksam. Gleiches läßt sich auch bezüglich des zwingenden Völkerrechts konstatieren: Zu diesem gehört das Verbot des Völkermordes, das sich nach leidvollen Erfahrungen endlich durchgesetzt hat. 

Endgültig ausgerottet sind Genozide durch solche Bestimmungen allerdings nicht. Die Geschehnisse in Ruanda Mitte der 1990er Jahre (und ihre nur partielle Ahndung) sind so exemplarisch wie erschreckend. Trotzdem gibt es viele Beispiele für eine fortschreitende völkerrechtliche Einhegung der Staaten. Vielen internationalen Gerichten ist es gelungen, Konflikte zu schlichten. Jedoch sind manchen hohen Organen der Rechtspflege, etwa dem Internationalen Strafgerichtshof, öfter die Hände gebunden, da ein Beschuldigter in der Regel Angehöriger eines Staates sein muß, der Vertragsstaat ist. Alles in allem darf gefolgert werden: Die Vorstellung von einer anarchistischen Staatenwelt ohne staatenübergeordnete Instanz ist zumindest teilweise überholt. Die Frage ist allerdings, ob sich für die Bürger daraus ein Rechtsfortschritt ergibt, da das Völkerrecht doch weiterhin primär ein Staatenrecht ist.

Der Autor weiß, daß auf der internationalen Ebene Ideal und Wirklichkeit noch weniger zur Deckung kommen als auf der nationalen. Insofern ist er mit Recht skeptisch gegenüber Vorstellungen, die im Völkerrecht ein Mittel zur Konstitutionalisierung der Welt sehen. Solche idealistischen Ziele unterschätzen nicht selten die Bedeutung von Macht und Effektivität im Völkerrecht. Hervorzuheben ist die differenzierte Argumentation, mit der er auch an aktuelle Probleme herangeht. So suggerierte ein nicht geringer Teil der politisch-korrekten Medien, daß die Verlegung der US-Botschaft in Israel durch Präsident Trump gegen das Völkerrecht verstoße. Herdegen ist diesbezüglich in seinem Urteil vorsichtiger. In der Zunft hat er den Ruf, gelegentlich auf politisch-korrekte Haltungen keine Rücksicht zu nehmen. Als CDU-Mitglied scheute er sich nicht, auf die Gefahren des UN-Migrationspaktes aufmerksam zu machen.

Der Autor diskutiert viele traditionelle Problemfelder des Völkerrechts (Selbstverteidigung, Selbstbestimmung, Sezession, Humanitäre Intervention, Good Governance und viele andere), aber auch neue wie die Folgen des Klimawandels. Er schafft es, die vielfältigen Mechanismen der internationalen Staatenwelt zwischen völkerrechtlichen Regeln, deren Durchsetzung und entsprechenden Sanktionen bei Nichteinhaltung einerseits sowie die Entwicklung des realen Machtgefüges andererseits im Rahmen eines gut lesbaren Überblicks zu präsentieren.

Matthias Herdegen: Der Kampf um die Weltordnung. Eine strategische Betrachtung. C.H. Beck, München 2019, gebunden, 291 Seiten, 21,90 Euro