© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/19 / 22. März 2019

Erschreckend oberflächlich
Allzweckminister Thomas de Maizière schreibt über das Regieren in Berlin. Dabei fällt viel mehr ins Auge, was die Bundespolitik alles nicht tut
Paul Rosen

Schon der Klappentext offenbart Unzulänglichkeiten: „Man muß die Mechanismen im ‘Berliner S-Bahn-Ring’, also im Berliner Politikbetrieb kennen“, schreibt der ehemalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), der jetzt unter die Buchautoren gegangen ist. Er scheint mit den Örtlichkeiten nicht so recht vertraut zu sein, denn der Berliner S-Bahn-Ring umfaßt auch rechtsfreie Räume wie die Rigaer Straße und das Drogenhandelszentrum Görlitzer Park. Wer jahrzehntelang nur im Dienstwagen mit abgedunkelten Scheiben kutschiert wurde, hat nie das zweifelhafte Vergnügen gehabt, bei abendlichen Fahrten auf dieser Ringbahn andere Menschen aus anderen Regionen wie Afrika und Arabien inklusive deren Bewaffnung kennenzulernen  – zweifellos eine Folge von Regierungshandeln.

De Maizière meint vermutlich Berlin-Mitte, wo sich Politik, Verbände, Lobbyisten und Medien festgesetzt und verquickt haben. Das ist jener Bereich, der im Westen von der Siegessäule und im Osten vom Hackeschen Markt begrenzt wird, im Norden bis zum Kollwitzplatz (Prenzlauer Berg) reicht und im Süden Kreuzberg einschließt. Den innersten Kern bilden Reichstag, Wilhelmstraße und Unter den Linden mit dem berühmten Café Einstein.

Druck auf Grüne wirkt, doch deren Wünsche werden vorab gewährt

Hier wird regiert – und davon handelt auch sein Buch, dem de Maizière den Titel „Regieren – Innenansichten der Politik“ gegeben hat. Aufgebaut wie ein politisches Lehrbuch, beginnt „Regieren“ mit Koalitionsverhandlungen nach Wahlen, schildert den Weg der Gesetzgebung und wird autobiographisch, wenn de Maizière etwa sein Verhalten zu Zeiten der Flüchtlingswelle schildert. Das Buch gibt tatsächlich Innenansichten – aber in Form von erschreckend oberflächlicher Kenntnis des Autors von Abläufen in Berlin. Schon im ersten Teil, wo es um Koalitionsverhandlungen geht, verweist de Maizière mehrfach auf den Bundesrat, wo man keine Mehrheiten zum Beispiel für Steuersenkungen bekomme. Das reicht ihm als Argument aus, Steuersenkungen von vornherein zu unterlassen. Vom politischen Kampf und davon, daß man dem Gegner auch Zugeständnisse für Steuersenkungen mit genug Druck abtrotzen kann, hält de Maizière – nichts.

Der Bundesrat spielt kaum noch eine Rolle in der Gesetzgebung. Die Große Koalition organisiert regelmäßig im geheimen Zusammenspiel mit den Grünen in den Bundesländern Mehrheiten in der Länderkammer, indem sie die Wünsche der Grünen schon vor Abschluß der Beratungen im Bundestag gleich in die Gesetze übernimmt. Zur faktischen Entmachtung des Bundesrates hätte man vom ehemaligen Verfassungsminister (was der Innenminister ist) ein Wort erwartet. Daß Druck auf Grüne übrigens funktioniert, bestätigt de Maizière selbst in einem späteren Kapitel, in dem er schildert, wie der zunächst ablehnende Bundesrat der Einstufung von Balkan-Staaten als sichere Herkunftsländer doch noch zustimmte. 

Auch die Veränderungen bei den Medien sind de Maizière entgangen. „Ich habe so gut wie keinen Journalisten je geduzt. Kein Journalist bekam während meiner Zeit als Minister meine Handynummer.“ Mit dieser Haltung bekämen Kabinettskollegen ihre Schwierigkeiten. Dann könnte der Mann von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), ein Journalist, seinen Mann nicht mehr anrufen. Spahn ist beileibe kein Einzelfall. De Maizière lebt noch in der Bonner Welt, als Politikbetrieb und Journalismus getrennt und nicht engmaschig verwoben waren wie in Berlin, wo man von einem politisch-medialen Komplex sprechen muß.

Politisches Handeln aus der Berlin-Mitte-Blase heraus

Politisches Handeln wird in Berlin fast nur noch innerhalb dieses Komplexes gerechtfertigt und bewertet. Den Kontakt zu den Menschen hat die Berlin-Mitte-Population längst verloren; Milieu-Kommunikation ersetzt die Wahrnehmung von Volkes Stimme. Wenn de Maizière zu der an den deutschen Grenzen ankommenden Flüchtlingswelle schreibt, die mögliche Sperrung der Grenze sei unter den Juristen seines Hauses umstritten gewesen und er habe entschieden, die Grenzen nicht zu schließen, so ist dies – gelinde gesagt – eine beschönigende Variante. Denn: Erstens hatte de Maizière nichts zu entscheiden. Das hatte die Kanzlerin längst gemacht. Und zweitens findet sich immer ein Jurist, der das Gegenteil seines Vorredners erklärt – selbst wenn der Vorredner Präsident des Verfassungsgerichts sein sollte. Deshalb ist die Äußerung des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) über die „Herrschaft des Unrechts“ in Berlin nicht „ehrabschneidend“, wie de Maizière beklagt, sondern zeigt nur, daß getretene Hunde bellen.

Gefragt gewesen wäre in jenen Tagen Führung, die auch öffentlichen Druck aushalten muß wie bei der atomaren Nachrüstung der Nato. Die ist von einem Minister, der morgens ins Büro kommt, seine Aktenstapel im Eingangskörbchen abarbeitet und das Büro verläßt, wenn der Stapel im Ausgangskörbchen deponiert ist, nicht zu erwarten. Ein Verwandter soll über Thomas de Maizière geäußert haben, das Beste, was er über ihn sagen könne, sei: Er funktioniert. Dieses Buch ist der Beweis.

Thomas de Maizière: Regieren. Innenansichten der Politik. Gütersloher Verlagshaus, München 2019, gebunden, 208 Seiten, 18 Euro