© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/19 / 22. März 2019

Am Ende des Denkens angekommen
Wer ritualisierte Phrasen wie „Gewalt ist keine Lösung“ hinterfragt, gilt schnell als Abweichler. Alexander Kissler seziert die platten Gedanken
Michael Dienstbier

Wir dürfen getrost davon ausgehen, daß es Phrasen gibt, seitdem sich der Mensch die Fähigkeit verbaler Kommunikation zu eigen gemacht hat. Und doch ist es mehr als nur ein Gefühl, daß die Phraseologie gerade im öffentlichen Bereich zur alles dominierenden Sprachnorm gelangt ist und die idealtypische Funktion des gesprochenen Wortes – Sage, was ist! – an die Stammtische unserer Nation verbannt hat.

Vielfalt bedeutet offene Grenzen und Zuwanderung billiger Arbeiter

 Eine Phrase im gesellschaftspolitischen Diskurs ist dabei mehr als nur inhaltsleeres Geschwätz, welches sich getrost ignorieren ließe: „Eine Phrase beginnt, wo das Denken endet. Sie erweckt den Eindruck, sie sei bereits das Ergebnis eines langen Nachsinnens und also müsse an der Stelle, an der sie ausgerufen wird, nicht mehr gedacht, sondern nur noch verkündet werden.“ In seinem neuen Buch „Widerworte: Warum mit Phrasen Schluß sein muß“ nimmt sich der Cicero-Journalist Alexander Kissler 15 der meistgebräuchlichen Phrasen zur Brust und zeigt dabei, wie fröhlich, aufklärerisch und vor allem phrasenfrei Ideologie- und Sprachkritik daherkommen kann.

Es vergeht kein Tag, an dem uns ein Vertreter des politmedialen Komplexes nicht mit dem Mantra „Vielfalt ist unsere Stärke“ belehrt und wir untertanengleich den Tanz um das neue goldene Kalb des bundesdeutschen Buntismus vollführen sollen. Kritisches Nachfragen ist verpönt und wird sofort als Nachweis einer reaktionären Gesinnung verortet. 

Denn wie kann man denn gegen ein vielfältiges Deutschland sein, welches uns tagtäglich seine bunten Bereicherungen angedeihen läßt? Kissler führt aus, daß die Vielfaltsideologie ein Produkt ökonomischer Interessenvertreter sei und dort als „kapitalistische Ressource“ gesehen werde. Vielfalt bedeutet offene Grenzen, bedeutet den Zuzug vor allem unqualifizierter Arbeitskräfte für im Niedriglohnbereich angesiedelte Tätigkeiten, bedeutet die einfachere Möglichkeit des Lohndumpings. Für weite Teile der Gesellschaft überwiegen die Kollateralschäden eines absolut gesetzten Vielfaltsdiktates: „Ohne Geschichte und ohne Identität bleibt das Bunte nur eine unverbundene Mehrzahl. Und wo das Bunte von einer spätmodernen Selbstverständlichkeit zur Staatsideologie umgebogen wird, triumphiert das Einfarbige. Die Einfältigen freut’s.“ Die Widersprüchlichkeit der ungewöhnlichen Allianz zwischen Wirtschaftslobbyisten und linksalternativen, kapitalismuskritischen One-World-Aktivisten wird von der Phrase höchst wirkungsvoll verdeckt.

„Menschlichkeit kennt keine Obergrenze“; „Willkommenskultur ist der beste Schutz vor Terror“ und das berüchtigte „Wir schaffen das“ – mal humorvoll, mal subtil, mal mit der rhetorischen Brechstange, aber immer präzise auf den Punkt gebracht, attackiert Kissler den an Orwell erinnernden Neusprech des 21. Jahrhunderts. Bevorzugtes Ziel seiner rhetorischen Angriffe stellen Vertreter der Evangelischen Kirche dar, die eine besonders innige Verbindung mit der zeitgeistigen Phraseologie eingegangen sind. Im Rahmen seiner Ausführungen über die Phrase „Gewalt ist keine Lösung“ zitiert er den EKD-Vorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm, der anläßlich des Weihnachtsfestes 2014 verlauten ließ, daß auch der Tod eines IS-Kämpfers ein sehr trauriges Ereignis sei, „weil ein Mensch gestorben ist.“ Kisslers trockener Konter: „Bekanntlich waren in Deutschland viele Protestanten, auch solche in leitender Funktion, am 30. April 1945 traurig, weil ein Mensch gestorben war.“ Treffer. Versenkt.

„Haltung statt Hetze!“ forderte schon 1934 ein Pfarrer

Auch die Phrase „Haltung statt Hetze!“ entlarvt Kissler als Kopfgeburt eines protestantischen Pfarrers, der seine Glaubensbrüder 1934 dazu aufrief, endlich von der schändlichen Hetze gegen die neue Reichsführung abzusehen und stattdessen die für Protestanten gemäße Haltung an den Tag zu legen. Offensichtlich waren die Lutheraner schon immer besonders erpicht darauf, sich mit den Methoden und Zielen der jeweiligen Staatsführung zu identifizieren. Diesen blanken Opportunismus als „Haltung zeigen“ zu veredeln, zeugt aber von einem bemerkenswerten Maß an Dreistigkeit.

Kisslers fröhliche Wissenschaft hat einen ernsten Hintergrund. In Deutschland ist politische Kommunikation jenseits ritualisierter Phrasen zur Zeit nicht möglich, womit das Wesen des Politischen faktisch außer Kraft gesetzt ist. Das mußte vor kurzem selbst die im veröffentlichten Diskurs gut gelittene Annegret Kramp-Karrenbauer feststellen, als sie im Rahmen einer Karnevalssitzung einige süffisante Bemerkungen über den Unsinn des dritten Geschlechts zum besten gab.

Das vorliegende Buch zeigt aber auch, daß die Herrschaft der Phrase kein Schicksal ist. Es braucht Menschen, die den Willen haben, sich ihre Sprache zurückzuerobern und genau da ihren Verstand gebrauchen, wo eine Phrase das eigenständige Denken abwürgen will. Die von Kissler entlarvten 15 Phrasen stellen lediglich die Spitze des sprachideologischen Eisberges dar. Verstehen wir sein Buch als Appell an uns mündige Bürger, gerade dann mit dem Denken zu beginnen, wenn ein ritualisierter Sprachgebrauch uns zum Schweigen bringen soll.

Alexander Kissler: Widerworte. Warum mit Phrasen Schluß sein muß. Gütersloher Verlagshaus, München 2019, gebunden, 208 Seiten, 18 Euro