© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/19 / 29. März 2019

Europa muß sich rüsten
70 Jahre Nato: Einst konzipiert, um nach dem Zweiten Weltkrieg Schutz zu bieten, muß sich das Bündnis heute neuorientieren
Paul Leonhard


Das Dilemma der Nato, die am 4. April in Washington ihren 70. Geburtstag feiert, hat der Europaabgeordnete Elmar Brok auf den Punkt gebracht: Die Verteidigungsfähigkeit sei „im Ergebnis erbärmlich“.

Bei 180 europäischen Waffensystemen, für die die Länder Europas 230 Milliarden Euro zahlen, und 30 US-amerikanischen Waffensystemen für die der US-Haushalt über 600 Milliarden Dollar vorsieht, versteht man, warum wie Brok auch Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) das „europaweite Harmonisieren der Planung, Beschaffung und Einsatzfähigkeit“ der Waffensysteme gebetsmühlenartig beschwört.

Teure Doppelstrukturen in Europa und die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA erschüttern den Glauben an die Verteidigungsfähigkeit beiderseits des Atlantiks. Schließlich schockte Trump, als er nach der für ihn typischen Deal-/No-Deal-Abwägung die Nato für „obsolet“ erklärte – wegen der zu geringen Militärausgaben.

Der Vorwurf des Trittbrettfahrens wird seit den 1980er Jahren vom US-Kongreß wiederholt vorgebracht und von Eisenhower über Kennedy und Nixon bis Obama beklagt – nur Trump scheinen die Europäer wirklich zu glauben. Um die USA, die bisher 70 Prozent zum Nato-Budget beitragen, in der Allianz zu halten, werden überall die Militäretats angehoben.
Bis Ende 2020 sollen Kanada und die Europäer 100 Milliarden Dollar mehr zahlen und bis 2024 weitere 250 Milliarden im Vergleich zu 2016, wie Nato-Chef Jens Stoltenberg beim Weltwirtschaftsforum in Davos forderte. Um 41 Milliarden seien die Budgets bisher gewachsen.

Auch die USA rüsten in Europa auf

Was weniger bekannt ist: Auch die USA haben ihrerseits die Verteidigungsausgaben für Europa erhöht. Die als Reaktion auf Rußlands Annexion der Krim gestartete „European Deterrence Initiative“ betrug 2016 in der Summe 700 Millionen Dollar, wurde jüngst von Trump um 1,4 Milliarden erhöht. 2019 werden weitere 1,8 Millarden das Budget auf 6,5 Millarden Dollar aufstocken. Weiter bot Trump jüngst dem Präsidenten von Brasilien, Jair Bolsonaro, eine Mitgliedschaft seines Landes an.

Trotzdem: Europa dämmert, daß es  auf einen hunderprozentigen Schutz durch die USA nicht mehr setzen kann. Es müsse endlich anfangen, selbst seine Werte und Interessen zu definieren und nach außen darzustellen, sagt der frühere US-Außenminister John Kerry: Es gelte Verteidigungskapazitäten in Polen, im Baltikum und anderen Partnerländern aufzubauen. Die Nato solle Rußland signalisieren, daß es irre, wenn es glaube, die liberale Ordnung des Westens sei tot und die USA im Niedergang begriffen.

Immerhin wurde als Reaktion auf die Ukrainekrise die „Very High Readiness Joint Task Force“ (VJTF) geschaffen. Dieser „Schnellen Eingreifgruppe“ gehören rund 5.000 Soldaten an, die als Speerspitze des Nordatlantischen Bündnisses innerhalb von drei Tage an jeden Ort verlegbar sein sollen.

Im Baltikum und Polen stehen die Regierungen den in einem Rotationssystem ständig präsenten multinationalen Nato-Kampftruppen eher skeptisch gegenüber: Einzig amerikanische Truppen, Überwachungs- und Raketensysteme würden Rußland abschrecken, meint der polnische Außenminister Jacek Czaputowicz: „Wir haben einfach Angst vor einer aggressiven russischen Politik.“ Czaputowicz verweist dabei auf „unterschiedliche Bedrohungswahrnehmungen in Deutschland, Frankreich und anderen westlichen Ländern“.
Angesichts der Bevölkerungsexplosion auf dem afrikanischen Kontinent sei es kein Wunder, daß sich „die Menschen keine Sorgen um russische Panzer machen“, die morgen kommen könnten, sondern mehr über die Boote mit afrikanischen Migranten, sagt Professor Kishore Mahbubani von der National University of Singapore.

Und wenn es in zehn Jahren eine Rivalität zwischen China und den USA bei geopolitischen Fragen geben werde, was wird dann aus den Europäern? Er würde der transatlantischen Allianz dringend empfehlen, stark zu bleiben und schnellstens „harte Diskussionen“ darüber zu führen, wie sich das Bündnis für das 21. Jahrhundert aufstellt, sagt Mahbubani.
„Heute ist in bezug auf das Bruttoinlandsprodukt China die Nummer eins, Nummer zwei sind die USA, Nummer drei ist Indien, Nummer vier ist Japan – kein europäisches Land befindet sich unter den ersten vier“, so Professor Mahbubani.

Während im Osten der Allianz Angst vor dem „selbstbewußteren und aggressiveren“ (Stoltenberg) Rußland herrscht, drohen asiatische Länder die nach 1945 von den USA geschaffene globale Architektur, die derzeit die Welt zusammenhält, zu sprengen.
Dazu kommt, daß der Kurs Deutschlands unter Bundeskanzlerin Angela Merkel irritiert. Wenn die Bundesverteidigungsministerin betont, daß die Nato nicht nur eine militärische, sondern insbesondere eine „politische Allianz“ sei, die auf „der Seite der Freiheit und der Menschenwürde, der Demokratie und der Herrschaft des Rechts“ stehe und diese gemeinsamen Werte von zentraler Bedeutung für die Fortexistenz des Bündnisses seien, merken all jene Nato-Mitglieder auf, die andere Ideale haben.

Das Schutzschild Nato, das, so US-Präsident Harry Truman bei der Unterzeichnung des Nordatlantikpaktes, „uns erlaubt, die normale Regierungsarbeit für die Gesellschaft fortzusetzen, um ein erfülltes und glückliches Leben für alle unsere Bürger zu erreichen“, war auf 20 Jahre angelegt.

Die Amerikaner hätten die Nato nie als eine permanente Garantie für Europas Sicherheit angesehen, erinnert der britische Historiker Jamie Shea, der als Strategieexperte für das Verteidigungsbündnis gearbeitet hat, im Interview mit dem Bayernkurier. Das Bündnis sei 1949 gegründet worden, um den Europäern zu ermöglichen, „sich nach dem Krieg wieder auf die Füße zu stellen und sich selbst zu verteidigen“.

Nachkriegsarchitektur führte zur Abrüstung

Nach der 1949 erfolgten Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages durch Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Portugal und die USA wurde auf eine Strategie der massiven Vergeltung durch atomare Sprengköpfe gegenüber dem Warschauer Pakt gesetzt.

Erst als die Sowjetunion ihr nuklear­strategisches Potential ausbaute und es zu einer Pattsituation kam, mußte der Westen umdenken. Die folgende Entspannungspolitik führte mit dem INF-Vertrag zur Vernichtung aller Flugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern.

Die diesjährige Aufkündigung des Vertrags von 1987 über nukleare Mittelstreckensysteme durch Trump bindet Rußland nicht mehr ein und ignoriert dessen Warnsignale. Dabei hat der russische Präsident Wladimir Putin mehrfach betont, daß das Vordringen der Nato über Polen und das Baltikum hinaus das Überschreiten einer roten Linie bedeute. Als Georgien und die Ukraine sich für die Nato bewarben, schlug Moskau zu. Dazu kommen die Entwicklungen auf dem Balkan.

Mit der Aufnahme Nordmazedoniens mit seinen zwei Millionen Einwohnern als 30. Mitglied beweise die Nato in ihrem 70. Jahr, daß sie „wächst und gedeiht“, sagt Generalsekretär Jens Stoltenberg. Der russische Partner Serbien ist umringt. Bosnien-Herzegowina ist nicht mehr weit von der Aufnahme entfernt und der Kosovo hat die Mitgliedschaft im „Partnerschaft für den Frieden“-Programm beantragt. Zusätzlich schieben sich nicht der Nato unterstehende US-Truppen wie von Polen gewünscht an die russische Westgrenze heran.

Mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers veränderte die Nato ihren Charakter. Die Allianz beschränkte sich nicht mehr auf Abschrecken, sondern mischte sich 1999 ohne UN-Mandat und außerhalb des Nato-Vertragsgebiets in den Kosovokrieg, ein. Während die USA nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 erstmals den Bündnisfall ausriefen, der zum Einsatz deutscher Truppen in Afghanistan führte, war der Einsatz in Libyen 2011 vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen legitimiert.

Die als Defensivbündnis gegründete Nato hatte sich gewandelt. Einem dauerhaften europäischen Frieden war sie am nähesten gekommen, als am 28. Mai 2002 der Nato-Rußland-Rat zu Fragen der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik gegründet wurde, um Rußland einzubeziehen.

Eigene Infrastruktur und Mobilität schützen

Aber schon acht Jahre später sah sich der damalige russische Präsident Dmitri Medwedew veranlaßt, eine Militärdoktrin zu unterzeichnen, nach der die Nato wieder eine militärische Gefahr für Rußland sei. Auch Stoltenberg sieht das globale Ringen zwischen dem eine Eurasische Union anstrebenden Rußland, den USA, und China, das die Neue Seidenstraße vorantreibt.

Die Nato müsse ihre Bürger nicht nur vor Panzern und unmittelbaren konventionellen Bedrohungen schützen, sondern auch gegen Cyberangriffe, vor Kontrollverlust über die Infrastruktur, die Mobilität, die Häfen und Flughäfen, die alle „unter die Kontrolle einer fremden Macht geraten könnten“, so der Historiker Shea. Angesichts technologischer Dominanz könnten die Ziele eines Krieges auch ohne Kampf erreicht werden.

Antworten auf die Frage: Wie kann man durch gute Politik heute vermeiden, daß es zu diesen Bedrohungen erst gar nicht kommt, gibt die Nato bisher nicht. Das Bündnis weiß noch nicht einmal, wie es auf die neuen russischen SSC-8-Raketen reagieren soll, die, so Generalleutnant a.D. Heinrich Brauß in einem Beitrag für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), die „Entschlossenheit und den Verteidigungswillen der europäischen Verbündeten im Norden, Osten und Südosten Europas im Krisen- und Verteidigungsfall lähmen“ könnten.

Bei aller Ungewißheit darf als sicher gelten, daß Nato-Generalsekretär Stoltenberg bei den Feierlichkeiten in Washington daran erinnern wird, daß die Nato – in Europa und Nordamerika – Länder mit einer Milliarde Menschen vereine. Das sei ein „wirklich großes Bündnis, das alle Bedrohungen und Herausforderungen bewältigen kann, denen wir heute in der Welt gegenüberstehen, solange wir zusammenstehen“.


Englischsprachige Zusammenstellung der Nato über das Verhältnis zu Rußland
 www.nato.int/cps/de/natohq/topics_111767.htm